In den Tropen hat die Architektur der Moderne Gebäude hervorgebracht, die bis heute unsere Wohnträume beflügeln. Ein prächtiger Bildband vereint die schönsten Villen von Brasilien bis Bali, von Kenia bis Vietnam
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06.11.2023
Tropenmoderne, schon dieser Begriff … Spürt man da nicht gleich einen Hauch von Fifties- oder Sixties-Coolness? Und hat man nicht automatisch James Bond auf einer karibischen Poolterrasse vor dem inneren Auge? Doch es ist auch ein brandaktuelles Wohnthema: Denn offen für die Natur, grün überwuchert sollen doch idealerweise bald auch bei uns in München oder Mailand alle Cityfassaden blühen. Ob das gelingt?
„Concrete Jungle“, ein neues Coffeetablebook aus dem Gestalten Verlag, bietet Inspiration in Überfülle. Es zeigt Architektur, die von 1932 bis 2022 rund um den Globus in den Grüngürteln am Äquator erbaut wurde, in den Vegetationszonen zwischen den Wendekreisen des Krebses und des Steinbocks. Etwa in Mexiko, Costa Rica, Südamerika, Bali, Vietnam, Indien, Malaysia oder Kenia. Mit einer Prise Nostalgie tauchen wir in die wunderbarsten bewachsenen Betonorgien ein, die sich Architekten und Bauherrinnen für Privathäuser, Clubs, Hotels, Museen und Parlamente ausgedacht haben. Was die tropische Moderne angeht, ist Brasilien das Sehnsuchtsland Nummer eins. Dort grenzen die Anwesen oft direkt an den Regenwald, Niederschläge sorgen für verschwenderisches Immergrün.
Diese üppigen places to be aus Glas und Beton, zwischen Kapokbäumen, Palmen und Lianen, können nichts dafür, dass sie in unserer Vorstellung manchmal von Bösewichten bewohnt werden. Dafür sorgt die Dschungellage zusammen mit unserer an Netflixserien geschulten Fantasie.Die Villen aber sind schuldlos schön. Wer sich mit der frühen Historie der Tropenmoderne befasst, stößt unweigerlich auf die Häuser von sehr berühmten Architekten aus dem 20. Jahrhundert – nicht wenige davon Pritzker-Preisträger.Das mexikanische Wohnhaus der Künstlerin Frida Kahlo, das auch in ihrer Malerei immer wieder auftaucht, zählt zu den ikonischen Bauten, aber auch die bonbonfarbene Avantgarde-Farm Cuadra San Cristóbal von Luis Barragán, und das von acht Meter hohen Pfeilern getragene Museum MASP von Lina Bo Bardi in São Paulo. Sowie deren Casa de Vidro ebendort, das die italienische Exil-Architektin 1950/51 dem stadtnahen Urwald abgerungen hat.
„Mein Glashaus war das erste in einem großen Reservat voller Tiere in freier Wildbahn: Ozelote, Gürteltiere, Meerschweinchen und wunderbare Schlangen!“, schwelgte sie über ihr privates Paradies. „In der Nähe lag ein kleiner See, der von Paraná-Kiefern umgeben wurde, von großer Stille und von indianischen Legenden“. Oscar Niemeyer hat in den Fifties den Palacio da Alvorada gebaut, jene Präsidentenresidenz, deren Säulenfassade so unfassbar elegant über ihrem Grundstück in der Reißbrettkapitale Brasilia zu schweben scheint. Und für die eigene Familie die Poolvilla Casa das Canoas in den Hügeln vor Rio. Dieses Haus hat die Lebensfreude in den Genen. Wer einmal da war, wird nicht so schnell vergessen, wie verwegen das nach allen Seiten gekurvte Flachdach den rechteckigen Grundriss darunter überschreibt.
Beton: rau, flexibel, günstig, leicht vorzufertigen – und heute ökologisch auf dem Prüfstand, galt damals als politisches Material. In Indien oder Kenia sollte er die neue Identität und das nation building stärken, in Brasilien zusätzlich die weggeputschte Unabhängigkeit am Leben erhalten. João Batista Vilanova Artigas und Paulo Mendes da Rocha brachten dort mit skulpturalen Betonstrukturen soziale Verantwortung zum Ausdruck. Vor allem Mendes da Rocha erfand zur Zeit der Militärdiktatur in seinem Land (1964–85) aus Trotz immer kühnere Konstruktionen – wie das King House von 1973. Dessen massive Sichtbetongestalt mit den blau-rot gestrichenen Innenzonen sitzt auf acht freistehenden Pfeilern und wird in der offenen Mitte durch eine Freitreppe erschlossen. „In Brasilien waren wir dazu verdammt, modern zu sein“, so Mendes da Rocha 2018, „Modernismus war der beste Weg für junge Nationen, den Kolonialismus herauszufordern.“
Neben den älteren versammelt das Buch ganz neue Betonhäuser. Isay Weinfeld und Marcio Kogan sind zwei weitere Brasilianer, die Architektursehnsüchte einer internationalen Klientel anfachen, mit Villen im Viertel Jardim Europa in São Paulo oder an der Küste zwischen Atlantik und Regenwald. Sie erzählen die legendäre Geschichte der brasilianischen Betonarchitektur weiter. Stilistisch reizen sie alle heute möglichen Mittel aus, um die Texturen des früher oft brutalistischen Betons zu verfeinern, Übergänge minimalistisch zu gestalten. Die lauten Primärfarben, wie sie Vilanova Artigas oder Mendes da Rocha bevorzugten, ersetzen Kogan und Weinfeld durch farblich zurückgenommene Flechtmuster und Variationen von Holztönen.
Dem internationalen Stil mischen sie vernakuläre Elemente bei. Was verblüffend ist: So gut wie alle Architekten hier, auch die ganz neuen, orientieren sich über alle Kulturgrenzen hinweg noch immer an Le Corbusier. Ihre Häuser sind rechtwinklig, viele stehen auf schmalen Betonpfeilern, haben Überhänge, werden von Treppen, Rastern, Patios, Frei- oder Sportflächen gegliedert. Keines hat einen Giebel. Le Corbusiers berühmte fünf Punkte – sein Manifest erschien 1923, vor exakt 100 Jahren – waren alle mit den Möglichkeiten des Be tons verbunden: Stützen (Pilotis), Dachgarten auf Flachdach, freier Grundriss, langes Fenster, Vorhangfassade. Diese Prinzipien prägen auch die jüngsten Entwürfe, die südliche Nachwuchsbaumeister in den letzten fünf Jahren umgesetzt haben: das Aviv House von Co-Lab Design Office in Tulum, Mexiko; die Ha Long Villa von Vo Trong Nghia in Vietnam; die Art Villa von Formafatal in Puntarenas, Costa Rica; Ludwig Godefroys Mérida House in Yucatán.
Le Corbusier selbst baute zwei Tropenvillen in der indischen Textilmetropole Ahmedabad. Dem Besitzer der Villa Shodhan von 1956, heißt es im Buch, habe er im Sommer Schatten, im Winter Wärme, außerdem gute Ventilation geschenkt. „Er und seine Gäste werden stets geschützt und bezaubert“, so der stolze Architekt über seinenKlassiker. Die kleinere Anzahl der Häuser in „Concrete Jungle“, die auch Rundungen aufnehmen, orientieren sich eher an Oscar Niemeyer, aber der war bekanntlich der größte Le-Corbusier-Fan von allen. Das großartige Betondschungelbuch entführt uns mit Traumfotos in Traumhäuser und Traumgärten und lässt uns in einer Zeit schwelgen, als Beton noch intellektuell, sozialverträglich und relativ billig war.
Im nächsten Jahrhundert wird anders gebaut werden. Mit weniger Energieaufwand. Nachhaltiger. Schonender. Kann in Asien und Afrika jederzeit erneuer- und verfügbarer Lehm, obwohl er oft als Armutsmaterial abgelehnt wird, seinen Reiz und seine fantastische Widerstandskraft zurückgewinnen? Wird Bambus sich, wie in Kolumbien, auch anderswo in Lateinamerika als Idealbaustoff für tolle 5000-Dollar-Einfamilienhäuser durchsetzen? Der Klimawandel dürfte dafür sorgen, dass Material künftig kostengünstig und nahe an der Baustelle beschafft werden muss. Und die besten Architekten der Tropen stellen sich darauf ein, dass Schönheit nicht nur vom Baustoff abhängt, sondern vor allem von ihrer Gestaltungskraft.