In der einzigartigen mykologischen Bibliothek des Hamburger Antiquars Christian Volbracht steckt ein ganzes Sammlerleben. Ein Hausbesuch bei einem Pilzliebhaber
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22.11.2023
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Erschienen in
Magazin Nr. 2020
Wenn man sich mit Pilzen beschäftigt, und erst recht, wenn man sich auf die Suche nach Literatur über Pilze begibt, dann stößt man früher oder später auf den Namen des Antiquars und Autors Christian Volbracht. Er hat die weltweit bedeutendste private mykologische Büchersammlung zusammengetragen, und kein Mensch sonst kennt sich so gut mit alten Pilzbüchern aus wie er. Seit rund fünfzig Jahren sammelt er, fast so lange tauscht er Bücher und handelt mit ihnen.
Wir besuchen ihn im schmucken Hamburger Stadtteil Eppendorf. Unweit der U-Bahn-Station Klosterstern geht es mit dem Aufzug in den vierten Stock. Hier lebt Christian Volbracht mit seiner Frau in einer hellen Altbauwohnung. Er geht voran in die Bibliothek, die an diesem frühherbstlichen Tag lichtdurchflutet ist. Vor den Braun- und Grüntönen der ledernen Buchrücken scheint er mit seinem dunklen Jackett fast in den Regalen zu verschwinden. Antiquitäten, moderne Kunst und vor allem die vielen Bücher, von schmalen Bändchen bis zu prächtigen Folianten, zeichnen das Bild eines Sammlerlebens. Modellskulpturen von Trüffeln und Steinpilzen stehen über alten Bestimmungsbüchern mit Titeln wie „L’indicateur des champignons“ oder „Common Fungi“. Im Regal prangt ein gerahmtes Zitat von Joachim Ringelnatz: „Du altes Schwein im Trüffelbeet – Weißt Du auch stets, wie gut’s Dir geht?“ Christian Volbracht hat, ohne viele Worte, eine Ausstrahlung, die sagt, er wisse es.
Auf dem Tisch hat der Antiquar einige bibliophile Schätze ausgebreitet. Er öffnet eines der Bücher. „Das war die erste große Ikonografie der Pilze, die ich Anfang der Siebzigerjahre erworben habe“, sagt er, M. C. Cookes achtbändiges Werk „Illustrations of British Fungi“ aus den Jahren 1881 bis 1891. Er zeigt auf eine Abbildung des Glimmertintlings, die in der Sonne glitzert. Den Effekt der kristallinen Struktur auf dem Pilzhut hat der Illustrator erzielt, indem er Glas zerstoßen und die Splitter auf der Lithografie fixiert hat. „Das ist eine meiner Lieblingsabbildungen.“ Zu jedem Pilz könnte der Sammler Geschichten erzählen. Der Tintling ist interessant, weil sein Hut zerfließt, wenn er reif ist. Wie der Name schon sagt, lässt sich aus der Flüssigkeit Pilztinte gewinnen. Volbracht hat seine Passion für die mykologische Literatur – und für Trüffeln – in Büchern und Aufsätzen, auch online veröffentlicht. Kürzlich hat er eine Abhandlung über Pilz-Illustratorinnen publiziert, zu denen auch die Kinderbuchautorin Beatrix Potter gehört. Sein Buch „Die Trüffel – Fake & Facts“ wurde mit dem Deutschen Kochbuchpreis in Gold ausgezeichnet.
Er schlägt August Cordas großformatige „Pracht-Flora europäischer Schimmelbildungen“ auf. Auf 25 kolorierten Tafeln sind die fantastischen Formen mikroskopisch kleiner Schimmelpilze in all ihrem Erfindungsreichtum dargestellt. Als Corda sein Opus 1839 veröffentlicht habe, sagt Volbracht mit einem trockenen Lachen, sei es „sinnlos verschwenderisch“ genannt worden. Heute sind Pilze als Thema dagegen en vogue, die Naturwissenschaften erforschen ihre Netzwerke, in Architektur und Design wird Myzelium als Material angewandt, Magic Mushrooms haben als bewusstseinserweiternde Droge eine wachsende Fangemeinde, und Pilze tauchen verstärkt in der Gegenwartskunst auf. Volbracht ist den Pilzen schon lange verfallen. „Mein erstes kleines Pilzbuch kam aus dem Regal meines Großvaters. Ich erinnere mich, wie wir Enkel zum Pilzesammeln mit ihm im Harz unterwegs waren. Anschließend begutachtete er unsere Funde.“ Besonders das Bestimmen der Pilze hat ihn schon als Jungen fasziniert. Maronen und auch den Kahlen Krempling haben sie damals gesammelt und gegessen. Dabei hatten sie Glück. Jahre später, als Journalist, verbreitete Volbracht exklusiv die Meldung, dass der Krempling, der lange als Speisepilz verzehrt wurde, auch ein Giftpilz ist, der eine tödliche Wirkung entfalten kann.
1945 in Derneburg geboren, wuchs Christian Volbracht seine ersten Lebensjahre in einem Seitenanbau des Schlosses auf, das später Georg Baselitz gekauft und lange bewohnt hat. Vor einigen Jahren hat das Sammlerehepaar Andrew und Christine Hall dem Künstler das Schloss abgekauft und in ein Museum für Gegenwartskunst umgewandelt. Er kann sich noch erinnern, wie er als Kind in den Sechzigerjahren, als das Schloss leer stand, im Rittersaal Federball gespielt hat. Als Journalist arbeitete er bei der Nachrichtenagentur dpa, die meiste Zeit in Hamburg, aber auch zehn Jahre als Büroleiter in Paris. Neben der journalistischen Tätigkeit widmete er sich, mit Mikroskop und immer mehr Literatur, der Mykologie. Heute würde man es Work-Life-Balance nennen: Nach dem Stress am Newsdesk der dpa konnte Volbracht in den Wäldern um Hamburg beim Pilzesammeln abschalten. Meist kam er mit vollem Korb zurück, mit Pilzen zum Bestimmen, Kochen und Essen. Neben der Trüffel zählt er die Krause Glucke zu seinen Lieblingspilzen, und diesen Juni, erzählt er, habe er wunderbare Steinpilze gesammelt.
Was die Bücher angeht, war für ihn die Bekanntschaft mit dem mittlerweile verstorbenen Hamburger Sammler Joachim Schliemann, einem Verwandten des berühmten Archäologen, eine große Inspiration. „Er besaß die damals bedeutendste mykologische Privatbibliothek“, sagt Volbracht und fügt hinzu, dass vierzig Jahre vergehen mussten, bis seine Sammlung die von Schliemann überflügelt habe. „Es begann mit praktischen Gebrauchsbüchern, dann wurde aus der Ansammlung eine Sammlung.“ Schliemann hatte ihm eine erste englische Antiquariatsadresse gegeben. „„Do you have books on fungi?“ war meine Standardfrage in England. Ein Antiquar in Brighton antwortete: „No, but I have fungi on books.“ Tatsächlich, im Bücherkeller wucherte der Schimmel.“
Sein Pariser Stadtplan füllte sich im Lauf der Achtzigerjahre mit immer mehr kleinen Kreuzen, „nicht für Ministerien, sondern für die Standorte der besten Antiquariate der Stadt.“ Auf der Suche sowohl nach Meilensteinen der Pilzkunde mit handkolorierten Tafeln als auch nach kleinen Pilzführern wurde er bei den Bouquinisten an der Seine ebenso fündig wie auf Auktionen in Paris oder London.
In Kriegs- und Notzeiten nehme die Zahl der Pilzführer zu, sie ließen Kulturgeschichte ablesen: „Pilze wurden als das Fleisch des Waldes, von Ideologen auch als wichtige Nahrungsreserve des deutschen Volkes gepriesen.“ Märchenbücher interessierten ihn nur, wenn sie „pilzdidaktischen Charakter“ hätten. Um sich teure Rarissimuma zu finanzieren, hatte Volbracht früh begonnen, mit Duplikaten zu handeln, und schon seit 1996 ist sein Antiquariat unter dem Namen Mykolibri im Internet zu finden.
Einen großen Einschnitt erfuhr die Sammlung vor vier Jahren: Das Botanische Museum in Berlin Dahlem, das im Krieg zerstört worden war und die eigene Bibliothek verloren hatte, erwarb von Volbracht, unterstützt von der Kulturstiftung der Länder, 2551 Pilzbücher aus der Zeit vom Beginn der modernen Pilzliteratur 1821 bis 1959. Er war froh, sie an eine so gute Adresse abzugeben, und tröstete sich über Trennungsschmerz mit dem Kauf von Cy Twomblys Mushroom-Blättern in der Berliner Galerie Bastian. Eine dieser Collagen aus dem Jahr 1974, in die Twombly Zeichnungen, Zeitschriftenfotos und Pilzillustrationen integriert hat, hängt hier in der Bibliothek an der Wand.
Behalten hat der Antiquar alle seine Trüffelbücher, viele wichtige und schöne Werke auch aus dem 19. Jahrhundert und alle älteren Werke, etwa den Wiegendruck der ersten italienischen Ausgabe der Naturgeschichte des Plinius von 1481, und die früheste gedruckte Pilzdarstellung, die vor uns auf dem Tisch liegt, ein Holzschnitt aus dem Hortus Sanitatis, Ausgabe 1491: In den überkreuzten Stielen der Pilze auf dieser Abbildung erkennt er seine Initialen CV und hat sie zum Logo seiner Bibliografie und seines Exlibris gemacht. Er ist stolz darauf, dass die umfangreiche Bibliografie seiner Sammlung längst die internationale Standardreferenz für die ältere Pilzliteratur ist. Er hat sie auch als Luxusausgabe mit historischen Originaltafeln herausgebracht, und man muss nicht lange rätseln, woher wohl die Tinte kommt, mit der die Exemplare nummeriert sind.
Immer noch kauft und verkauft Christian Volbracht Bücher. Immer noch ist er auf der Suche. Zwei „Unfindables“ stehen auf seiner Wunschliste: die Originalausgabe von Antonio Ceccarellis „Opusculum de tuberibus“ von 1564, das erste Buch ausschließlich über Trüffeln, und die vollständige Ausgabe von Max Britzelmayrs Werk „Hymenomyceten aus Südbayern“ (1879–1897), denn er besitzt nur einen Teil der insgesamt 762 Tafeln. Sie aufzustöbern ist ein schwieriges, vielleicht unmögliches Unterfangen. Ganz einfach ist dagegen das Trüffelrezept, das er beim Abschied nennt: „Trüffeln mit Rührei. So schmecken sie am besten.“