Roni Horn

Ich bin eine Insel

Seit fünf Jahrzehnten reist die amerikanische Künstlerin Roni Horn nach Island. Die Auseinandersetzung mit der dortigen Landschaft ist ihr Lebenswerk

Von Catherine Peter
29.12.2023

Es klingt wie der Anfang eines Seefahrer-Romans: In tiefster Nacht, auf hoher See, 30 Kilometer südlich von Island, bemerkt die Besatzung eines Fischkutters einen schwefligen Geruch in der Luft, das Wasser fängt an zu brodeln, Rauch steigt aus dem Meer. Im Morgengrauen dann die Gewissheit, dass gerade ein submariner Vulkan ausbricht. Aus der Tiefe dringt Lava an die Oberfläche und noch am selben Nachmittag werden zwei Krater sichtbar. Die feurige Geburt der heute 2,7 Quadratkilometer großen Vulkaninsel Surtsey, benannt nach dem Feuerriesen Surt aus der nordischen Mythologie, war im Herbst 1963 ein weltweites Medienereignis. Als achtjähriges Mädchen verfolgte Roni Horn das beeindruckende Naturschauspiel vor dem Fernseher, das in pausenloser Ausstrahlung mit der Berichterstattung über das Attentat auf John F. Kennedy zusammenfiel. Ob die lebenslange Obsession mit Island in diesen turbulenten Fernsehstunden ihren Anfang nahm? Ausschließen kann man es nicht. „Island hat mich in allem beeinflusst“, sagt Roni Horn, als wir sie für ein Telefongespräch in ihrem Atelier in Manhattan erreichen.

Eine Aufnahme von Roni Horn, die der Fotograf Juergen Teller Anfang der 2000er-Jahre gemacht hat, zeigt die Künstlerin auf einer New Yorker Dachterrasse. Mit nacktem Oberkörper, bekleidet nur mit Jeans und Sakko, schenkt sie sich entspannt ein Glas Rotwein ein. Eine selbstbewusste, unabhängige Inszenierung, wie ein Statement gegen die ausgemachten Eindeutigkeiten dieser Welt. Heute ist Roni Horn 68 Jahre alt und lebt weiterhin in ihrer Geburtsstadt New York. Sie stammt aus einer säkularen jüdischen Familie, und eigentlich hieß sie Rosie, nach ihren beiden Großmüttern. Als ihr androgynes Aussehen und ihre Zuneigung zu Frauen schon in frühen Jahren immer deutlicher wurden, entschied sie sich für den neutraleren Namen Roni. Ihr vielseitiges Werk umfasst Zeichnungen, Texte, Skulpturen, Fotografien und wird weltweit in den wichtigsten Museen ausgestellt. In einer Zeit, in der Queerness und Genderthemen längst nicht so präsent waren wie heute, beschäftigte sich Roni Horn ungestört als Vorreiterin mit der Suche nach dem eigenen Selbst, das sich einer klassischen Geschlechtsidentität nicht zuordnen ließ.

Roni Horn Island Eule
Ob die ausgestopfte Eule als Selbstporträt gedacht ist? Subtiler Humor findet sich in vielen von Horns Werken. © 2023 Roni Horn/Steidl Verlag, Göttingen

Im Alter von 19 Jahren reist Horn 1975 zum ersten Mal nach Island, in das Land, das sowohl auf der Nordamerikanischen als auch auf der Eurasischen Platte liegt. Vier Jahre später, nach einem Studium an der Rhode Island School of Design, durchstreift sie mit Motorrad und Zelt mehrere Monate allein die Insel. 1982 verbringt sie sechs Wochen im Leuchtturm von Dyrhólaey im Süden des Landes. Es werden in regelmäßigem Abstand weitere zahlreiche Reisen von New York nach Island folgen. In ihrer Textsammlung „Island Zombie“ (2020), die von ihren Erlebnissen berichtet, schreibt sie über ihren ersten Besuch: „Meine Erinnerung an die Reise wird dominiert von dem Wetter. Der Himmel, der Wind und das Licht hinterließen einen starken Eindruck. Wetter war mir bis dahin noch nicht in den Sinn gekommen.“ Ein paar Zeilen weiter: „Island war eine Kraft, eine Kraft, die Besitz von mir ergriffen hatte.“ Die Erfahrungen mit den Elementen und Erscheinungen der Natur, die sie in dieser Zeit macht, werden ihr Werk entscheidend prägen.

Als größte Vulkaninsel der Welt wird Island oft als Fantasie anregende Urlandschaft beschrieben. Auf dichtem Raum treffen gegensätzliche Elemente wie Eis und Feuer aufeinander. Eindrucksvolle Landschaften mit Gletschern, Vulkanen, Wasserfällen und Fjorden sind hier entstanden. Der Himmel liegt brach über einem. Es ist das Geburtsland zahlreicher nordischer Sagen und Märchen. Hier verortete der französische Schriftsteller Jules Verne den Eingang zum Mittelpunkt der Erde. Es ist ein Ort, wo die Landschaft sich ständig sichtbar verändert und sich gewaltige Naturereignisse beobachten lassen.

Roni Horn Island To Place
Das Bild von der hellblauen heißen Quelle stammt aus einem ihrer „To Place“-Bänden, Roni Horns fortlaufender Publikationsserie über Island. © 2023 Roni Horn/Steidl Verlag, Göttingen

Bei ihren ersten Besuchen auf Island wird Roni Horn sich zunächst entscheiden, hier frei von jeglichen künstlerischen Absichten zu sein. In ihrem kurzen Text „Making Being Here Enough“ (1990) erzählt sie von ihrem inneren Verlangen und dem Versuch, die Landschaft unbefangen zu erleben. Das Fotografieren oder das Zeichnen, schon die Suche nach einem Motiv, hätten diese reine Sinneserfahrung geschwächt. Durch das einfache Dasein und durch die intensive Erfahrung der Elemente erlebt Roni Horn eine Zeit ganz im Sinne der Romantik. In der Naturbeobachtung erkennt sie sich selbst. Es geht sogar noch ein Stück weiter: Roni Horn verschmilzt mit der isländischen Landschaft. In zahlreichen Texten und Interviews wird sie auf diese Erkenntnis zurückkommen, wie ähnlich sie und Island einander sind. Wie es dann doch dazu kam, dass Island Motiv ihrer Kunst wurde, erklärt sie im selben oben genannten Text: An einem frühen Abend, nach einem langen regnerischen Tag auf Island, erinnert sie die menschenleere Landschaft an den Maler El Greco. Die Kunst hat sie, selbst dort, eingeholt.

Die Veröffentlichung des Bandes „Bluff Life“ (1990) mit Zeichnungen, die Roni Horn während ihres Aufenthalts im Leuchtturm von Dyrhólaey geschaffen hat, bildet den Auftakt zu der fortlaufenden, beispiellosen Publikationsreihe „To Place“, einer künstlerischen Enzyklopädie, die sich ausschließlich Island widmet. Bis heute sind elf Bände erschienen. Das Layout gestaltet sie immer selbst. Nach und nach formt und erforscht Roni Horn so in ihren Büchern ihr persönliches Island. Es dominiert das Genre der Fotografie, die zum Teil mit eigenen Texten kombiniert wird. „Ich muss zeichnen oder schreiben, fotografieren muss ich nicht“, erklärt sie uns. „Meine fotografischen Arbeiten sind eigentlich keine Fotografien im klassischen Sinne. Ich versuche nicht, eine bestimmte Fantasie oder Vorstellung fotografisch umzusetzen. Es ist vielschichtiger. Meine Fotografien ähneln eher Zeichnungen.“ Man könnte es auch als das fotografische Werk einer Dichterin bezeichnen, jedes Buch als Strophe eines Gedichts, das noch im Entstehen ist. Sicher ist: Es geht hier nicht um das schöne Bild.

Roni Horn dokumentiert keine Alltagssituationen, aber sie interessiert sich für zivilisatorische Eingriffe in der Natur, die zum Teil nur als Spuren zu erkennen sind. „Folds“ (1991) besteht aus Aufnahmen von Schafgehegen an verschiedensten Orten der Insel. Von Schafen ist weit und breit nichts zu sehen. Zurück bleiben Formationen in der Landschaft, die auf eine komische Art fast außerirdisch wirken. „Pooling Waters“ (1994) zeigt unterschiedliche Gebäude und Rohrkonstruktionen, die in der Nähe heißer Quellen entstanden sind. Hier bevorzugt Roni Horn einen weiten Blickwinkel, der die Anlagen meist dampfend in dieser sonst verlassenen Landschaft zeigt. Kompositorische Spannung erzielt Horn oft durch die paarweise Gegenüberstellung von menschlichen Gesichtern und Naturaufnahmen. In „Becoming a Landscape“ (2001) zeigt Roni Horn abwechselnd verschiedene Porträts eines einzigen Kindes und Nahaufnahmen heißer Quellen. Im ersten Buch des Doppelbandes „Haraldsdóttir“ (1996) veröffentlicht sie Bilder, die später in der Installation „You Are the Weather“ (1994–1996) zu ihrer berühmtesten Arbeit überhaupt werden. Es sind Variationen desselben Motivs, wie Stills von einem einzigen Film: das Antlitz einer jungen Frau, gerahmt vom Blau des Wassers und dem Dampf der Quellenbäder. Ähnlich, aber immer doch ganz anders. Das Gesicht ist – wie die Landschaft – im ständigen Wandel.

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