Der Name Penang ist vielen Deutschen kaum ein Begriff. Aber die Street-Art-Szene der malaysischen Insel sorgt für Furore. Ein Fahrrad und lachende Kinder spielen eine besondere Rolle
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14.12.2023
Vor der roten Seitentür eines alten chinesischen Shophouses haben sich Dutzende Touristen mit einer Art Straßenkarte in der Hand versammelt. Auf einem Wandgemälde ist ein Junge mit einem alten Militärhelm auf einem Motorrad zu sehen, der über seine rechte Schulter hinweg auf die Straße blickt. Das Besondere: Nur der Junge ist gemalt, das Motorrad ist echt. Smartphone-Kameras klicken, ein Mann lehnt sich für das perfekte Foto an den Sattel des schwarzen Bikes. „Boy on a bike“ ist eines der berühmtesten Werke der Street-Art-Szene von Penang im Nordwesten von Malaysia.
Straßenkunst ist ein globales Phänomen. Das Spektrum reicht von unleserlichem Graffiti-Gekrakel bis zum Mythos Banksy, dessen Werke millionenschwere Auktionen dominieren. Auf der Insel Penang mit der Hauptstadt George Town gibt es viel Straßenkunst zu bewundern, sie ist zu einer Hauptattraktion geworden. Die Patina auf den historischen Wänden der Unesco-Weltkulturerbestätte George Town hat sich in eine Leinwand für moderne und oft interaktive Kunst verwandelt – eine faszinierende Mischung, die Besucher und Besucherinnen aus aller Welt begeistert.
„Die Straßenkunst hat Penang erst auf die Weltbühne gebracht“, ist die Krankenschwester Sudha Kanisan (48) überzeugt, die ihr ganzes Leben auf der Insel verbracht hat. Angefangen hat alles 2012. Damals kreierte der aus Litauen stammende Künstler Ernest Zacharevic im Rahmen des George Town Kulturfestivals erste Murals. Die Werke – eine Mischung aus Installation und Malerei – trafen einen Nerv und inspirierten in der Folgezeit vor allem lokale Künstler, die sich ebenfalls auf den historischen Wänden verewigten. Heute wirkt George Town wie eine einzige Open-Air-Kunstgalerie.
„Im College habe ich mich mit jemandem aus Penang angefreundet. An einem chinesischen Neujahrsfest kam ich vorbei, um sie zu sehen und etwas abzuhängen“, erinnerte sich der heute 37-jährige Zacharevic 2016 in einem Interview mit „Time Out Penang“. Dann sei er einfach geblieben – eine gute Entscheidung: Seine während des Festivals entstandene Serie machte ihn auf einen Schlag berühmt – speziell die Werke „Children on Bicycle“ und „Boy on Motorcycle“. Die BBC feierte Zacharevic wenig später als „Malaysias Antwort auf Banksy“.
Zwei Kinder sitzen lachend auf einem alten Fahrrad. Der kleine Junge klammert sich an seiner großen Schwester fest. Auch hier gilt: Die Kinder sind gemalt, das Fahrrad ist echt. Eine Frau posiert für einen Schnappschuss und tut so, als würde sie das Rad anstupsen. Das Online-Magazin „Street Art News“ beschrieb Zacharevics einzigartigen Stil so: „Er hebt die Beschränkungen künstlerischer Grenzen auf und bewegt sich frei zwischen den Disziplinen Ölmalerei, Schablone und Spray, Installation und Skulptur.“
Daran angelehnt erschuf der lokale Straßenkünstler Louis Gan später „Brother and sister on a swing“, das auf einer halb verfallenen Mauer zwei lachende Geschwister auf einer Schaukel zeigt. Daneben hat er eine echte Schaukel installiert. „Dies ist mit Abstand das aufregendste Wandgemälde, das in George Town aufgetaucht ist, seit Ernest Zacharevic auf der Bildfläche erschienen ist“, heißt es auf der Webseite Travel Tips Penang. Ein Hingucker sind auch Dutzende Karikaturen aus Draht, die sich über die ganze Stadt verteilen und Historie mit Humor verschmelzen.
Penang, auch als „Perle des Orients“ gefeiert, ist eine farbenprächtige Mischung verschiedener Epochen, Kulturen und Religionen. Einst war die Insel ein wichtiger britischer Handelsposten in Südostasien. Kolonialbauten aus dieser Zeit wechseln sich mit chinesischen Shophouses, buddhistischen Tempeln, Kirchen und Moscheen ab. Und allerorts ziehen verführerische Duftschwaden der Garküchen durch die Tropenluft. Seit 2008 ist Penang Weltkulturerbe.
Manche vergleichen einen Spaziergang durch George Town mit einer Schatzsuche. Aber statt Gold und Juwelen wird urbane Kunst gesucht: Dafür gibt es detaillierte Karten, die Touristen durch das Labyrinth der Gassen leiten. Jedes Werk, das ausfindig gemacht und fotografiert wurde, wird abgehakt wie auf einer Checkliste. So berühmt sind einige der Gemälde, dass sie T-Shirts, Taschen oder Kühlschrankmagneten in den Souvenirläden zieren.
„Das Interessante ist, die Geschichte hinter jedem Kunstwerk zu verstehen“, sagt Kirsten Müller, eine Touristin aus Österreich. „Manchmal nutzen wir das Internet, um mehr über die einzelnen Bilder zu erfahren, und manchmal sind einige Hintergründe im Kunstwerk selbst enthalten.“ Es sei faszinierend, Penang durch die Augen dieser künstlerischen Erzählungen zu betrachten, betont die 65-Jährige.
Nicht selten kommt es vor, dass Besucher angeregte Gespräche mit Einheimischen führen, um die kulturellen Nuancen der Street Art besser zu verstehen. Die Mauern von George Town trennen nicht, sie verbinden. Farbenfroh und fröhlich schlagen sie eine Brücke zwischen gestern und heute – oder anders ausgedrückt: Die bunten Pinselstriche haben der bröckelnden Patina von Penang neues Leben eingehaucht. (Von Genevieve Tan Shu Thung und Carola Frentzen, dpa)