Per Du mit Duchamp

„Haltet euch fest und genießt die Fahrt!“

Dass der Erfinder des Ready-mades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner neuen Weltkunst-Kolumne

Von Thomas Girst
25.04.2024

Nach der Vernissage von Julie Mehretus großer Ausstellung „Ensemble“ im Palazzo Grassi in Venedig laden ihre Galerien zum Dinner ins Luxushotel des Palazzo Pisano Gritti am Canal Grande ein. Marian Goodman, White Cube, Carlier Gebauer. Wie bei solchen Anlässen üblich, sprechen die Gastgeber von der Großzügigkeit der Künstlerin. Galeriedirektor Jay Jopling bezieht sich dabei vor allem auf die zahlreichen Arbeiten anderer Künstlerinnen und Künstler, die Mehretu inmitten ihrer Retrospektive präsentiert. Darunter Werke ihrer ehemaligen Partnerin Jessica Rankin sowie Werke von Nairy Baghramian, Tacita Dean, Paul Pfeiffer und David Hammons. Nach viel Dank und Lob ergreift Mehretu das Mikrofon: „Alle sprechen heute Abend von Großzügigkeit, das habe ich kommen sehen. Ich spreche lieber von meinem Egoismus, mit meinen Freunden und Wegbegleitern gemeinsam ausstellen zu wollen. Von meinem Egoismus, dass ich sie darum gebeten habe, ihre Werke zusammen mit meinen zu zeigen.“

Der Beginn ihrer Schau in Venedig fällt zufällig auf das Ende einer anderen Ausstellung, nur ein paar hundert Meter flussaufwärts. „Heute Nachmittag habe ich mir Marcel Duchamp in der Guggenheim Collection angesehen. Er hat mit so vielen anderen kooperiert, mit André Breton, mit Francis Picabia, mit Mimi Parent und Mary Reynolds. Woher kommt nur diese Idee des einsamen Kunstschaffenden, der im Vakuum operiert? Wir sind alle doch nur Teil von etwas Größerem, gemeinsam mit unseren Künstlerfreunden und -kolleginnen.“ Die von ihr erwähnte Ausstellung „Marcel Duchamp and the Lure of the Copy”, kuratiert von Paul B. Franklin, lief von Oktober 2023 bis März 2024. Man Rays Fotografie des „Flaschentrockners“ durfte darin nicht fehlen. Das originale Readymade von 1914 war dem Ersten Weltkrieg zum Opfer gefallen. Bereits ein Jahr nach Erwerb in der Eisenwarenabteilung des Warenhauses Bazar de l’Hôtel de Ville entsorgte Suzanne Duchamp, seine Schwester, den Flaschentrockner, als sie seine Pariser Wohnung auflöste. Der Künstler war vor dem Krieg nach New York geflohen.

Monica Bonvicinis Bronze „Fleurs du Mal (un couple)“ ist inspiriert von Marcel Duchamp
Monica Bonvicini, „Fleurs du Mal (un couple)“, 2024, Bronze, Glas, 55,5 x 50 x 53 cm. © Monica Bonvicini and VG Bild-Kunst, Courtesy the artist and Galerie Gisela Capitain, Cologne, Photo: Simon Vogel

Duchamp beschäftigt nicht nur Julie Mehretu bis heute, auch viele andere aktuelle Kunstschaffende nehmen sich seine Botschaften zu Herzen – oder reiben sich an seinem Œuvre. Die jüngste Inkarnation des Flaschentrockners hat Monica Bonvicini geschaffen und eine Abbildung davon für die Einladungskarte ihrer Ausstellung „& Liberation“ ausgewählt, die bis 18. Mai in der Galerie Gisela Capitain in Köln zu sehen ist. Bonvicinis Bronzeskulptur „Fleurs du Mal (ein Paar)“ von 2024 ist dabei Duchamps Readymade exakt nachgebildet. Allerdings lässt sie an der Schweißnaht von dreizehn der aufragenden Zinken Glasornamente baumeln wie Weihnachtsschmuck. Sie wollen nichts anderes sein als Skrota, vulgo: Hodensäcke. „Die sexuellen Implikationen von Duchamps Werk sind allgemein bekannt“, sagt Bonvicini auf Nachfrage. Sie zitiert dabei die Beobachtungen des New Yorker Kunstprofessors Jerrold Seigel zum Flaschentrockner: „Er harrt seiner Komplettierung durch das Aufhängen nasser Flaschen an seinen Zinken, ein Verlangen, das so offensichtlich wie lächerlich freudianisch ist.“ Doch das lange Warten hat sich allmählich erschöpft, so Bonvicini. Wir wissen heute, meint sie, dass Weichtiere die Menschen überleben werden, denn ihre Fortpflanzung hänge nicht von der männlichen Kopulation ab. „Also haltet euch fest und genießt die Fahrt!“

Service

DER KOLUMNIST

Thomas Girst war Gründungsredakteur von „Tout Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal“ (1999-2003) und Ko-Kurator der Ausstellung „Marcel Duchamp in München 1912“ im Lenbachhaus 2012. Er ist Autor von „The Duchamp Dictionary” (2014) sowie zahlreicher Publikationen über den Künstler.

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