Die betenden Hände oder der Hase – die Kunstwerke von Dürer begeistern manche Menschen so sehr, dass sie sich diese tätowieren lassen. Ist das Kunst? Oder nur einer von vielen Tattoo-Trends?
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15.04.2024
Ein Dürer im Museum, das ist erst einmal nichts Ungewöhnliches. Doch dieser entsteht gerade erst – und zwar auf Haut, genauer auf dem Oberschenkel des Kanadiers Miguel. Dieser liegt in Boxershorts und T-Shirt auf einer Bank mitten in der Ausstellung und verzieht immer wieder das Gesicht, während die französische Tattoo-Künstlerin Maud Dardeau ihm einen muskulösen Mann und ein properes Baby auf den Oberschenkel sticht. Natürlich tue es weh, sagt er. Doch: „Dürers Werke sind es wert, auf dem Körper getragen zu werden.“
Für Miguel, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte, ist das Tattoo nach dem Kupferstich «Herkules am Scheideweg» bereits das vierte nach einem Motiv von Dürer. Und der 48-Jährige ist bei Weitem nicht der einzige Mensch, der sich so sehr für Dürer begeistert, wie eine Ausstellung im Geburtshaus des großen Renaissance-Meisters in Nürnberg zeigt, das heute ein Museum ist.
Im vergangenen Herbst hatte das Museum über die sozialen Medien Menschen weltweit dazu aufgerufen, Fotografien von ihren Dürer-Tattoos einzusenden – und war überwältigt von der Resonanz, wie Christine Demele, Leiterin des Albrecht-Dürer-Hauses sagt. Eine Auswahl von 250 Fotografien ist nun seit Freitag in der Ausstellung „Dürer under your skin: Tattoo art“ zu sehen.
Dass sich Miguel dort tätowieren lässt, gehört als Performance zum Programm. An drei Tagen liegt er in der Ausstellung und lässt sich dabei beobachten, wie Dardeau feine Tintenlinien in seine Haut sticht, überschüssige Farbe abwischt und immer wieder prüfend auf die Vorlagen schaut. Seit zwölf Jahren arbeitet die Französin als Tattoo-Künstlerin. Der unvergleichliche Stil von Dürer habe sie von Anfang inspiriert, sagt sie.
Der Reiz von Dürers Werken sei deren Schönheit, sagt auch die Tattoo-Künstlerin Tanina Palazzolo aus Münster. „Sie haben eine besondere Intensität. Sie sind sehr klar, gut tätowierbar.“ Sie selbst habe schon einige Dürer gestochen.
Doch auch andere Kunstmotive seien immer wieder gefragt, sagt sie. Zum Beispiel die Friedenstaube von Picasso, die zerlaufenen Uhren von Salvador Dalí, Edvard Munchs Schrei oder Keith Harings Linienfiguren. Beliebt seien zudem Blumen, Tiere, Ornamente, Symbole aus der Seefahrt wie aktuell besonders der Kompass und religiöse Motive.
„Es geht weg von bunten Tattoos hin zu schwarzen. Man schattiert nicht mehr in Grau, sondern mit kleinen Pünktchen“, sagt die Expertin. Auch die sogenannten Hand Poked Tattoos seien angesagt. Dabei werden kleine Tätowierungen mit einer Nadel und ein wenig Tinte mit der Hand gestochen.
Zu Trends werden ihren Angaben oft Tattoos von Prominenten, zum Beispiel die Sterne, die Popstar Rihanna am Hals trage. So etwas sieht Palazzolo aber kritisch: „Tätowierungen sind keine Modeentscheidungen und kein Konsumartikel.“ Diese sollten wohl überlegt sein, denn sie begleiteten einen Menschen ein Leben lang.
Genau das will Miguel: Die Werke von Dürer seien so detailreich und voller Symbole. Sie thematisierten viele essenzielle Themen und würden immer wieder Fragen aufwerfen, sagt er. „Sie laden dazu ein, ein Leben lang über sie nachzudenken.“
Was die Ausstellung auch deutlich zeigen möchte: Tattoos sind Kunst – allerdings seien diese lange in den Museen und in der Kunstgeschichte vernachlässigt worden, sagt Christine Demele. Obwohl diese eine uralte Kunstform seien, spielten sie erst seit den 1980er-Jahren dort eine Rolle. „Aber nur sehr am Rande.“ Mit den 2010er-Jahren habe das Thema allerdings deutlich an Fahrt aufgenommen.
Dazu beigetragen hat auch der belgische Künstler Wim Delvoye, der Schweine tätowieren ließ und diese als Kunstwerke verkaufte. Mit „TIM“ verwandelte dieser auch einen Menschen in ein lebendiges Kunstwerk, dessen Rücken er mit einem großflächigen Tattoo gestalten ließ. „Auch seine Haut wurde verkauft. Er ist vertraglich dazu verpflichtet, sich in Galerien und Museen zu zeigen“, sagt der Kunsthistoriker Ole Wittmann, der zu Tattoos in der Kunst promoviert hat.
Tattoos werden auch in Form von NFTs, also digitalen Besitzurkunden, und Original-Zeichnungen auf dem Kunstmarkt gehandelt, wie Palazzolo sagt. Erfolgreiche Ausstellungen zu Tattoo-Kunst habe es bereits in New York, London, Hamburg und Frankfurt gegeben. „Solche Ausstellung tragen natürlich dazu bei, Tattoos als Kunstform anzuerkennen.»“
Allerdings sei das bei entscheidenden Stellen in der Politik, Behörden und Gerichtsbarkeit nicht der Fall, betont Palazzolo, die auch Vorsitzende des Vereins Tätowierkunst ist. So könnten sich Tattoo-Künstlerinnen und Künstler bisher nicht bei der Künstlersozialkasse versichern. „Dagegen kämpfen wir an. Das Tätowieren besitzt alles, was Kunst ausmacht.“
Sind Tattoos also per se Kunst? „Absolut nicht jedes Tattoo ist ein Kunstwerk, genauso wenig wie jedes gemalte Bild. Das muss man von Fall zu Fall sehen“, meint Wittmann. Aus seiner Sicht ist ein Tattoo Kunst, wenn es sich um eine eigenständige und innovative Schöpfung handele.
Und das kann auch für Tattoos gelten, die große Meister wie Dürer kopieren. Wie in der Ausstellung zu sehen ist, lassen sich diese nicht eins zu eins auf die Haut übertragen – vor allem, wenn es sich um großflächige Motive handelt.
Den Dürer-Kupferstich müsse sie neu interpretieren, um ihn auf Miguels Körper zu verewigen, sagt Maud Dardeau. Dabei bringe sie auch ihre eigene Handschrift mit ein. Das zeigt aus Sicht von Kunsthistorikerin Christine: „Die Haut ist einfach ein anderer Bildträger, ein lebendiger Bildträger. Aber im Prinzip sind es Kunstwerke auf der Haut.“ (Von Irena Güttel, dpa)