Wenn in Venedig die Biennale eröffnet, sind Walton Fords jüngste Bilder in der Bibliothek des Ateneo Veneto zu sehen. Er hat sich von Tintorettos „Vision des Heiligen Hieronymus“ inspirieren lassen und imaginiert die Legende neu. Ein Atelierbesuch in New York
Von
16.04.2024
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 225
Am Rand von Tribeca, zwischen dem dröhnenden West Side Highway am Ufer des Hudson River und dem üblichen Verkehrsstau am Holland Tunnel, liegt das Studio von Walton Ford. Es ist ein Viertel von Manhattan, das von Backsteinbauten des 19. Jahrhunderts, Kopfsteinpflaster und schicken Neubauten geprägt ist, es gibt immer mehr Hotels, Bars und Restaurants und dazwischen Gebäude, die aussehen, als hätte die Zeit sie vergessen. Zu dieser Kategorie zählt Walton Fords Adresse.
Eine unscheinbare Rampe führt zum Eingang, der nicht abgeschlossen ist – was für eine Überraschung, als die Tür aufgeht und man sofort den Künstler mit dem Pinsel in der Hand an seiner Staffelei vor sich hat. Walton Ford legt den Pinsel beiseite. Er ist ein enthusiastischer Mensch. Zur Begrüßung kommt er mit großen Schritten zum Eingang und achtet nicht auf das Meer, das er überqueren muss: Am Boden verstreut liegen Fotos, Bücher und Papierschnipsel, Skizzen in Bleistift und in Farbe, eine Bohrmaschine, ein Föhn, verschiedene Kabel, Becher, Bürsten, Besen, Latten, pigmentgetränkte Lappen, Pinsel, Stifte, Lineale, verschiedene Knochen und Tierfiguren.
Die Aufzählung könnte noch lange weitergehen, denn es sieht aus, als hätte ein Orkan den Inhalt eines Naturkundemuseums und einer Bibliothek durcheinandergewirbelt. An der linken Wand leuchtet, flankiert von zwei kleineren Bildern, ein rund drei Meter breites gelbes Aquarell mit einem Löwen in Lebensgröße. An der rechten Wand hängt eine Rattenzeichnung von George Grosz, und Bücherstapel türmen sich vor übervollen Tischen mit Farbtuben und Tierskeletten auf.
Zwischen einem Rennrad, einer Büste der Nofretete und drei bunten Dürer-Plastikhasen – eine Edition von Ottmar Hörl – gibt es eine Sitzecke. Walton Ford schiebt ein paar Papiere von den Polstermöbeln, sodass wir uns hinsetzen können, um über seine kommende Ausstellung zu sprechen. In wenigen Wochen beginnt in Venedig zeitgleich zur Biennale seine Schau „Lion of God“, kuratiert von Udo Kittelmann, mit dem er schon bei seiner großen Berliner Ausstellung „Bestiarium“ im Jahr 2010 zusammengearbeitet hat. Für den neuen Zyklus hat er die Werke geschaffen, die jetzt das Chaos im Atelier dominieren.
Er berichtet von seiner Reise nach Venedig, wo er das Ateneo Veneto di Scienze, Lettere e Arti inspizierte, eine Bibliothek und Kulturinstitution unweit des Opernhauses La Fenice. Im Palazzo San Fantin aus dem 16. Jahrhundert hatte einst eine Bruderschaft ihren Sitz, zu deren Aufgaben es zählte, die zum Tod Verurteilten zu ihrer Hinrichtung zu begleiten. Hier werden ab 17. April Walton Fords jüngste Werke zu sehen sein, vielleicht, meint er, der schönste Ort, an dem er je ausgestellt hat. Zu den Schätzen der Institution gehört Jacopo Tintorettos Gemälde mit der Darstellung einer „Vision des Heiligen Hieronymus“ aus der Zeit um 1580. Auf einem iPad zeigt Walton Ford auf die schräge Komposition des venezianischen Manieristen: „Die Lichtführung ist bizarr. Das Licht strahlt von Maria auf den Heiligen Hieronymus, doch sie selbst ist aus einer anderen Richtung beleuchtet. Sie entstammt einer übernatürlichen Sphäre, sie muss nicht in derselben Welt existieren wie er.“
Erst auf den zweiten Blick ist der Löwe im Schatten neben dem Heiligen zu erkennen. Ihn macht Walton Ford nun zum Protagonisten seiner neuen Bilder. Als er den Tintoretto sah, sagt er, hatte er sofort das Konzept für die ganze Ausstellung vor Augen: „Was wären die Visionen des Löwen?“ Er vertiefte sich in die Legende des Heiligen: „Der hinkende Löwe kommt zu Hieronymus, er entfernt den Dorn aus seiner Tatze, und der Löwe wird zahm wie ein Hund, so hat es etwa Dürer in seinen Kupferstichen gezeigt.“ In unzähligen Bildern ist das zahme Tier Attribut des Kirchenvaters, seine Begleiterscheinung.
Der Künstler erzählt weiter, wie der Löwe der Legende nach einen Esel auf der Weide hütete, aber eines Tages in der Hitze einschlief und der Esel gestohlen wurde. Nun verdächtigten Hieronymus und die Mönche ihn, das Lasttier gefressen zu haben, und zur Strafe musste ab jetzt der Löwe die Arbeit des Esels verrichten und das Brennholz tragen. „Das Raubtier wird gezähmt und gedemütigt, es wird zum Lasttier.“ (Der englische Ausdruck beast of burden, den Walton Ford benutzt, klingt noch dramatischer als die deutsche Übersetzung, und man hat sofort den gleichnamigen Song der Rolling Stones im Ohr.) Schließlich findet der Löwe den Esel wieder, vertreibt die Diebe, bringt ihn nach Hause und wird wieder in die Gemeinschaft aufgenommen.