In Wiesbaden eröffnet das Museum Reinhard Ernst mit seiner außergewöhnlichen Sammlung abstrakter Kunst. Auch der Bau des jüngst verstorbenen Architekten Fumihiko Maki ist ein Gesamtkunstwerk
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18.06.2024
Wie so oft sind es Details, die das Besondere verraten. „Fühlen Sie mal“, sagt Oliver Kornhoff, der Direktor des Museum Reinhard Ernst, kurz mre. Kornhoff streift im ersten Stock des Neubaus über eine Fuge zwischen zwei Platten des hellen, aufgerauten Granits, mit dem die Fassade außen, aber auch innen im Foyer verkleidet ist. Die Silikonfüllung der Fuge fühlt sich tatsächlich rau an. „Damit die Fläche gleichmäßig glitzert, wurden alle Fugen, das war ein Wunsch von Herrn Ernst, nachträglich mit Quarzsand bestäubt“, erläutert Kornhoff. Zudem sei der Bau an allen Ecken mit sogenannten „Hakensteinen“ ausgestattet. Ihre Eigenart: Sie sind aus dem vollen Block geschnitten, haben keine Gehrungsfuge, die den Gesamteindruck der einheitlichen Fläche stören könnte.
Es sind solche Details, dank denen dieser Museumsbau seine Wirkung entfaltet. „Zuckerwürfel“ haben ihn die Wiesbadener getauft – und tatsächlich strahlt der Bau besonders hell, wenn die Sonne scheint. Aber nicht nur dann – und nicht nur durch die Fassade.
Am 23. Juni 2024, nach fünf Jahren Bauzeit, eröffnet das Museum Reinhard Ernst. Es ist das zehnte Museum, das der japanische Architekt Fumihiko Maki entworfen und gebaut hat. Seine Eröffnung konnte er leider nicht mehr miterleben, im Juni ist Maki im Alter von 95 Jahren verstorben. Maki gehörte zu den bedeutendsten Architekten der Welt. Für seine Bauten, die durch ihre Eleganz wie Funktionalität bestechen, erhielt er 1993 den Pritzker-Preis, den wichtigsten Preis für Architektur. Fünfmal reiste Maki nach Wiesbaden, um seinen Bau in Augenschein zu nehmen. Das neue Haus mit einer Gesamtfläche von 9700 Quadratmetern und mehr als 2500 Quadratmetern Ausstellungsfläche steht in der Wiesbadener Wilhelmstraße, in der feinsten Einkaufsstraße und guten Stube der hessischen Landeshauptstadt, zwischen dem Museum Wiesbaden und dem historischen Ensemble aus Casino, Kurpark und Landestheater. Nur das Grundstück wurde dabei von der Stadt zur Verfügung gestellt, auf ihm war zuvor ein Parkplatz. Für die Baukosten von bisher etwa 80 Millionen Euro, vor allem aber für den künftigen Unterhalt des Hauses kommt allein die Stiftung der beiden Gründer auf. Reinhard und Sonja Ernst machen damit der Stadt, in der das Paar seit zwanzig Jahren lebt, ein Geschenk, welches sicherlich weit über sie hinaus strahlen wird.
„Es ist ein Haus für die Kunst – aber dabei selbst ein Kunstwerk“, so beschreibt es Reinhard Ernst. „Zuerst einmal sehen die Menschen ja das Gebäude, werden von ihm angezogen – und beginnen dann hoffentlich, sich auch für die Kunst darin zu interessieren.“ Seit über 40 Jahren sammelt Reinhard Ernst Kunst, genauer gesagt: abstrakte Kunst. Die Kollektion umfasst mittlerweile mehr als 960 Werke, reicht von 1945 bis in die Gegenwart und geografisch von Frankreich und Deutschland über die USA bis Japan. Es sind die Länder, in denen der Unternehmer Reinhard Ernst beruflich stark engagiert war. Ernst, aufgewachsen in Eppstein im Taunus, ist ein klassischer Selfmade-Man, er gründete in Limburg einst den europäischen Ableger der „Harmonic Drive“ und machte die Firma für hochpräzise Antriebstechnik zum Weltmarktführer.
Vor einigen Jahren verkaufte er das Unternehmen und die Schwesterfirma – und widmet sich seitdem dem künftigen Museum. „Ich habe Fumihiko Maki als Architekt nicht deshalb ausgewählt, weil wir seit vielen Jahren befreundet sind“, sagt er, „Ich habe ihn gewählt, weil ich seine Bauten gut kenne – nicht nur die in Japan, sondern auch die in den USA. Er ist ein Architekt, wie ich ihn mir als Bauherr wünsche. Er hat seine Prinzipien, aber seine erste Aussage ist immer: ‘Ich baue für den Bauherrn. Ich baue für dich!’“ Es ist übrigens nicht das erste Haus, das Ernst und Maki zusammen realisiert haben. Bereits 2011, nach dem Tsunami, wollte das Ehepaar Ernst, das viele Freunde in Japan hat, den Betroffenen in der Region helfen. Sie bauten in Natori eine Begegnungsstätte für Kinder und alte Menschen, das „Haus der Hoffnung“. Der Entwurf stammt von Maki.
Fumihiko Maki ist ein Architekt, der mit großem Respekt für die Umgebung seine Gebäude entwirft. In seinem humanistischen Ansatz verbindet er die westliche architektonische Moderne mit japanischen Traditionen. „Maki hat immer im Blick, welche Funktion ein Gebäude hat“, betont Reinhard Ernst. „Jeder einzelne Raum hat in seinen Entwürfen einen konkreten Zweck, bei ihm passt alles.“ Dem Architekten widmet das mre zur Eröffnung die erste Sonderausstellung mit dem Titel: „Fumihiko Maki und Maki & Associates. Für eine menschliche Architektur“. In ihr werden Modelle der wichtigsten Projekte seines Büros gezeigt, darunter „Museumsgeschwister“ des mre wie das Aga Khan Museum in Toronto (2014) oder das National Museum of Modern Art Kyoto (1985). Als junger Mann, erzählt Museumsdirektor Oliver Kornhoff, habe der Architekt sich vorgenommen, am Ende seines Leben zehn Museen gebaut zu haben. „Wir können nun gratulieren: Mission accomplished, Maki-san!“
In Wiesbaden haben Architekt und Bauherr zusammen ein Haus geschaffen, das auf den ersten Blick Widersprüchliches miteinander verbindet: Es ist selbstbewusst und zugleich bescheiden. Es verströmt die Aura des Besonderen und zeigt sich zugleich nahbar. Es ist konsequent zeitgenössisch und fügt sich dennoch respektvoll in das 19. Jahrhundert-Ensemble in der Wilhelmstraße ein. Betrachtet man das Museum Wiesbaden mit seinem vorspringenden Säulengang und daneben das neue mre mit seinem zurückgesetzten Foyer, bemerkt man, dass man die Gebäude quasi ineinander schieben könnte. „Makis Meisterschaft zeigt sich in vielen Dingen, die auf den ersten Blick beiläufig wirken und doch immense Auswirkung haben“, sagt Oliver Kornhoff, „etwa darin, dass der Fußbodenbelag unseres Vorplatzes der gleiche ist wie im Foyer. Fugengenau verschränken sich so außen und innen, um die Stadt mit dem Museum zu verbinden und einen nahezu nahtlosen Übergang zu schaffen. Ein Museum wie dieses soll ein offenes Haus sein, ein Ort der Begegnung.“
Der Eintritt ins Foyer ist daher auch frei. Die Besucher erwarten dort das Restaurant „rue 1 by gollner‘s“, der Museumsshop und der Raum für die Kunstvermittlung. Im Museum selbst zahlen Kinder und Jugendliche generell keinen Eintritt und der Vormittag von Dienstag bis Freitag ist für Schulklassen und andere Bildungsträger reserviert – auch das eine bewusste Entscheidung der Stifter.
Von außen erscheint der „Zuckerwürfel“ zwar wie ein Kubus, doch in Wirklichkeit besteht er aus vier Blöcken, die sich um den quadratischen Innenhof gliedern. Das Atrium, welches rundum verglast über alle Stockwerke reicht, bildet dabei die Herzkammer des Hauses. Es flutet das Museum mit natürlichem Licht und sorgt, auf welcher Etage man sich auch befindet, für Orientierung. Im Atrium stehen auf Kiesflächen, die einen japanischen Garten zitieren, zwei Eyecatcher: Auf hellem Kies eine rostbraune Skulptur aus drei schweren Stahlelementen, jedes der Elemente scheint sich dabei dem Himmel entgegenzustrecken. Die Skulptur stammt vom spanischen Bildhauer Eduardo Chillida und trägt den zu diesem Ort passenden Titel „Buscando la luz (III)“, zu deutsch: „das Licht suchend“. Im dunklen Kies gegenüber steht ein zweistämmiger, 65 Jahre alter japanischer Fächerahorn. Der Ahorn ist so etwas wie der heimliche Star des Museums, allein die Pflanzaktion – mit einem Kran wurde der Baum in den Innenhof gehievt – war ein Spektakel.
Wer genau hinschaut, kann übrigens an seinen Stämmen zwei rote Punkte entdecken. Mit ihnen markierten die beiden Museumsstifter, die auf der Suche nach dem perfekten Baum tausende Kilometer fuhren, bevor sie ihn in einer Baumschule an der niederländischen Grenze fanden, den Ahorn, damit die Gärtner wussten, wie genau er eingepflanzt werden sollte. Wie sagte Reinhard Ernst beim Rundgang durch das Haus: „Wir haben hier auf sehr viele Details geachtet. Das zeichnet den Architekten aus – und den Bauherrn.“