Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner neuen Weltkunst-Kolumne. In Folge 3 geht es um Marcel Duchamps Œuvre als Quelle der Inspiration für Kritiker wie Künstlerinnen
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15.07.2024
Der Dichter und Duchampkenner André Gervais erzählte mir vor einem Vierteljahrhundert mal am Telefon, dass kaum eine Woche verginge, ohne dass sich jemand bei ihm melde, der den Schlüssel zu Duchamps Werk gefunden haben will. Vom Aufregungsgrad der Anrufenden her klänge das stets wie das berühmte „Je tiens l’affaire!“ („Ich hab’s!“), das der Sprachwissenschaftler Jean-François Champollion am 27. September 1822 durch die Pariser Wohnung zurief – nachdem er die ägyptischen Hieroglyphen des Steins von Rosetta entziffert hatte. Das Werk Duchamps scheint für viele eine ähnlich herausfordernde Knobelaufgabe: Psychoanalyse, Kabale, hinduistische Rituale, Numerologie, poststrukturalistische Semiotik, das inzestuöse Verlangen nach seiner Schwester Suzanne, Zen und das I Ging – es gibt nichts, worüber nicht schon als vermeintlich alles erklärender Leitgedanke wissenschaftlich geforscht und publiziert wurde.
James Joyce hat bekanntlich nach seiner eigenen Aussage „so viele Rätsel und Geheimnisse“ in seinen Jahrhundertroman Ulysses (1922) „hineingesteckt“, „dass es die Professoren Jahrhunderte lang im Streit darüber halten wird, was ich wohl gemeint habe“. Dagegen ist von Duchamp der lakonische Satz überliefert: „Es gibt keine Lösungen, weil es keine Probleme gibt.“ Ganz in diesem Sinne hat er sich recht spät im Leben zum Versuch der alchemistischen Lesart seiner Arbeiten geäußert: „Wenn ich je Alchemie praktiziert habe, dann auf die einzige Art und Weise wie das heute wohl funktioniert, nämlich ohne es zu wissen.“ Solche Worte spornen die Exegeten und Hagiographen erst recht bei der Suche nach einem roten Faden an. Zumal bei einem Künstler, der wenig von sich preisgab und entgegen der eigenen Proklamation des Nichtstuns die letzten zwanzig Jahre im Verborgenen sehr wohl weiter arbeitete und als professioneller Schachspieler ohnehin immer weit vorausdenken und jedwede Reaktion antizipieren musste.
So hat sich jetzt auch in der Baseler Wilde Galerie der Konzeptkünstler Kendell Geers mit seiner Ausstellung „The Oculist Witness“ grandios verrannt. Bis 17. August breitet Geers hier über zwei Stockwerke seine jahrzehntelange Beschäftigung mit Duchamps Oeuvre in über hundert Objekten, Skulpturen, Hinterglasmalereien und Plakaten aus. Das gleichnamige Buch appelliert bereits in den ersten Seiten an die Leserin, dass der „Schlüssel, Marcel Duchamp zu verstehen“ darin bestehe, „fast alles zu vergessen, was je über ihn geschrieben wurde“ und stattdessen seine Arbeiten „zu betrachten, als sei es zum allersten Mal.“ Konsequenterweise zitiert Geers kein einziges jener Bücher, die sich mit Duchamps dreimonatigem Aufenthalt 1912 in München beschäftigen – damit er behaupten kann, es sei praktisch nichts über diese Zeit in der bayerischen Hauptstadt bekannt, die Duchamp später selbst als „Schauplatz meiner kompletten Befreiung“ bezeichnete. Und was die Aufforderung zur rein werkimmanenten Betrachtung anbelangt: Hatte denn nicht gerade Duchamp selbst seine Langeweile mit einer rein visuellen, „retinalen Kunst“ betont, die er viel lieber in den Dienst des Geistes, also der „grauen Materie“ stellen wollte? Geers aber versucht auf rein optischer Ebene den vermeintlich vor allem seit München bestehenden Einfluss von da Vinci, Dürer, Ingres und Poussin mit kruden schematischen Überzeichnungen von deren Werken mit jenen Duchamps nachzuweisen. Und was kommt dabei herum? Bemühte, beharrliche, in ihrem Machismo fast aggressiv wirkende Kunst, die nirgends hinführt – außer immer wieder zu Geers, der alles erforscht, als Einziger alles verstanden und gelöst haben will. Herrje.
Mit derselben Dringlichkeit versuchen seit vielen Jahren Glyn Thompson und Julian Spalding nachzuweisen, nicht Duchamp sei Autor des Readymades „Fountain“, dem berühmten Urinal von 1917, sondern vielmehr die Dada-Baronin Elsa von Freytag-Loringhoven. Damit argumentieren sie nicht nur an allen Fakten vorbei und desavouieren zudem die Arbeit der Künstlerin Louise Norton oder der Avantgarde-Spezialistin Dawn Ades, sondern erweisen auch Freytag-Loringhoven einen Bärendienst: Denn diese läuft nunmehr Gefahr, kaum noch für ihr eigenes Werk, sondern wegen einer Fehlzuschreibung Aufmerksamkeit zu bekommen. Die niederländische Künstlerin Barbara Visser hat mit „Alreadymade“ im Zürcher Kunsthaus bis Mitte Mai diesen Jahres gleichwohl eine beinahe herzzerreißende Ausstellung gezeigt, die sich mit eben diesem Thema auseinandersetzte – aber gottlob noch genug Raum für Freytag-Loringhoven selbst beließ, die sich 1927 in ihrer Pariser Wohnung das Leben genommen hatte, nachdem sie bettelarm von New York nach Europa zurückgekehrt war. Ihr bitterer Spruch – „Ich wurde nicht bekannt genug und so bin ich vergessen“ – erinnert an die Grabinschrift des romantischen Dichters John Keats: „Hier liegt einer, dessen Name in Wasser geschrieben war“. Zum Glück sind uns beide bis heute präsent geblieben, die Künstlerin wie der Lyriker.
Wer aber ganz ohne wütende Männer, also ohne jedweden Anspruch auf Alleingültigkeit oder hartnäckiges Diskurshoheitsgedümpel einen Künstler mit Duchamps Erbe unbekümmert herumtollen sehen will, wird in Venedig bei Jiri Georg Dokoupil noch bis Mitte August in der Biblioteca Marciana fündig, wo dessen knallbunte Seifenblasen aus Glas auf sieben metallene „Flaschentrockner“ gespießt sind, verspielte Artgenossen von Duchamps erstem Readymade aus dem Jahr 1914. Und wem dessen Urinal – der fehlgeleiteten Diskussionen zum Trotz –hoffentlich nicht vergällt ist, kann sich nach Belgien aufmachen, wo inmitten der kreisrunden Innenstadt Mechelens die Kunsthalle des Städtchens gleich mit elf internationalen Künstlerinnen und Künstlern aufwartet: In der Gruppenausstellung „The Fountain Show“ wird bis zum 25. August nicht nur Duchamps Urknall der Konzeptkunst verhandelt. Die jahrtausendealte Geschichte von Springbrunnen und Pissoirs dient der jüngsten Generation von Kunstschaffenden hier auch als Inspirationsquelle.
Und wenn das alles noch nicht genug ist, dann lohnt ein Abstecher in François Pinaults Pariser Privatmuseum Bourse de Commerce, wo bis zum 2. September im Rahmen der Ausstellung „Le Monde comme il va“ ein ganzer Raum mit Replikas von Werken Duchamps zu sehen ist. Eine kluge Hommage von Elaine Sturtevant, die stets von dessen „sehr großem Einfluss auf meine Kunst“ gesprochen hat. 1973 baute sie zahlreiche Readymades nach und präsentierte diese unter dem Titel „1200 Coal Bags“, von denen hunderte tatsächlich unmittelbar über den Köpfen der Besucherinnen baumelten. Genau diese Deckeninstallation kam seitens Duchamp erstmals bei der „Exposition Internationale du Surréalisme“ zum Einsatz, die 1938 das Publikum in die Galerie Beaux-Arts in Paris lockte. Natürlich war das noch nicht alles: Deutsche Marschmusik drang damals durch die Lautsprecher, der Duft von gerösteten brasilianischen Kaffeebohnen erfüllte die Luft, Laubblätter lagen knöcheltief auf dem Boden verstreut und eingangs wurden an die Besucherinnen Taschenlampen verteilt, um in den verdunkelten Räumen der Galerie die Kunst überhaupt sehen zu können.
Kein Wunder also, dass Duchamp noch immer als wegweisender Ausstellungsmacher für die Kunst des 20. Jahrhundert gefeiert wird. Niemand weiß das besser als Eva Kraus, Intendantin der Bundeskunsthalle Bonn, die zum Thema „Display-Strategien und kuratorische Praxis im Surrealismus“ promoviert hat. Was sagt sie eigentlich zu den Debatten um die Bedeutungshoheit bei Duchamp? Dieser habe sicher viele Fallen gestellt, die man immer dann zuschnappen hört, wenn man sich als Kunsthistoriker seiner Sache zu sicher ist. Sein Werk ist also mitnichten ein Sudoku, das der Auflösung harrt, sondern gleicht wohl eher dem dreidimensionalen Schach, das man Captain Kirk gemeinsam mit Spock auf der USS Enterprise gelegentlich spielen sieht. Besten Dank, Eva Kraus! Und hört doch einfach mal her, Kendell Geers, Glyn Thompson, Julian Spalding: Der Humor, der für Duchamps Werk nach dessen eigenen Aussagen doch so zentral ist, er muss in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit ihm nicht vollends einer rechthaberischen Bissigkeit weichen.
Hier geht’s zu Kolumne 1 und hier zu Kolumne 2.
Thomas Girst war Gründungsredakteur von „Tout Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal“ (1999-2003) und Ko-Kurator der Ausstellung „Marcel Duchamp in München 1912“ im Lenbachhaus 2012. Er ist Autor von „The Duchamp Dictionary” (2014) sowie zahlreicher Publikationen über den Künstler.