Sprühbilder von Thomas Zitzwitz, detailverliebte Interieurs von Vittore Carpaccio und großformatige Fotografien von Heike Gallmeier – unsere Venedig-Korrespondentin Petra Schaefer verrät uns ihre Kunst-Highlights der Lagunenstadt
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07.08.2024
Wenn man wie ich ständig mit Künstlerinnen und Künstlern zusammenarbeitet, die in den Sparten Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Musik arbeiten und oft disziplinenübergreifend tätig sind, dann fällt die Antwort auf diese Frage sehr schwer. Ich schätze jede/jeden, der sich mit meiner Lieblingsstadt Venedig auseinandersetzt! Besonders berühren mich die Sprühbilder von Thomas Zitzwitz (*1964), der mir von meinen Kolleginnen Dr. Julia Apitzsch-Haak und Susanne Stephani von der Studienstiftung in Berlin vorgestellt wurde. In einigen seiner abstrakten räumlichen ‚Landschaften‘ erkennt man das venezianische Kolorit à la Giorgione. Seit Zitzwitz 2021 im Giudecca Art District ausgestellt hat, besuche ich regelmäßig seine Ausstellungen in der Galerie Richard in Paris und in der Galerie Norbert Arns in Köln. Im September stelle ich ihn in Venedig aus. Punktuell kuratiert er selbst und setzt seine Arbeit in Bezug zu Werken anderer Künstlerinnen und Künstler aus den Bereichen Malerei, Fotografie und Bildhauerei wie in Die Vögel des Zufalls mit Werken von Wim Delvoye, FORT, Gregor Hildebrandt, Robert Kraiss, Alicja Kwade, Alwin Lay, Oliver Mark und Anna Virnich. Dies ermöglicht ihm und uns als Betrachter einen immer neuen, spannenden Blick auf sein Œuvre, in dem er die Möglichkeiten des Mediums Malerei immer weiter auslotet.
Es gibt kein Gemälde der venezianischen Frührenaissance, das nicht zu meinen Lieblingswerken zählt. Am liebsten aber besuche ich Vittore Carpaccios Leinwandgemälde Der Traum der Hl. Ursula, welches sich heute in der Gallerie dell’Accademia befindet. Es handelt sich um eine der wenigen Darstellungen des privaten Lebensumfelds in Venedig um 1500. Erst letzte Woche betrachtete ich wieder das detailverliebte Interieur, in dem die Schuhe der schlafenden jungen Frau perspektivisch in das geometrische Bodenmuster eingefügt sind. Ich mag Carpaccios Gemälde auch deshalb, weil sich zeitgenössische Bildende Künstlerinnen in ihren Werken darauf beziehen: die Berlinerin Heike Gallmeier (*1972) baute für ihre großformatige Fotografie Wahrtraum aus dem Jahr 2011 den prospektiven Architekturraum mit gefundenen Materialien nach und schrieb sich selbst als ‚Ursula‘ in die skulpturale Installation ein, während die Münchenerin Sophie Schmidt (*1986) im Laufe einer dreiwöchigen Hotelzimmer-Quarantäne in Taipei im Jahr 2021 in der Collagen-Serie Bauchvorhangöffnung mit der Heiligen ‚korrespondierte‘. Dies zeigt, dass Carpaccios Gemälde auch nach 500 Jahren noch zu berühren vermag. Nach einer Ausstellung in Venedig befindet sich Heike Gallmeiers „Wahrtraum“ derzeit im Schaulager im Palazzo Barbarigo della Terrazza, Sitz des Deutschen Studienzentrum in Venedig. Es hängt im Erdgeschoss des Renaissancepalastes, wo man es bis Ende November am Rande von Veranstaltungen besichtigen kann.
Anlässlich der Kunstbiennale gibt es in Venedig viele Ausstellungen zu empfehlen! Besonders beeindruckt hat mich die Begegnung mit der belgischen Künstlerin Berlinde De Bruyckere, über die ich hier berichte. Ihre brandneuen großformatigen „Erzengel“ in der lichterfüllten Palladio-Basilika auf der San Giorgio-Insel am Markusbassin sollte man nicht verpassen. Sie sind trotz ihrer finsteren Gestalt hoffnungstragend! Auch die Empfehlung von Lisa Zeitz gebe gerne weiter: sie hat den New Yorker Künstler Walton Ford getroffen, der im Ateneo Veneto di Scienze Lettere ed Arti unweit des Fenice-Theaters mit aktuellen Werken auf das dort befindliche Gemälde „Die Vision des Heiligen Hieronymus“ von Jacopo Tintoretto rekurriert. Nebenan in der Kirche San Fantin setzt sich auch der in London lebende iranische Künstler Reza Aramesh mit der venezianischen Malerei der Vormoderne auseinander. Vor einer „Kreuzigung Christi“ im Tintoretto-Stil verstreut Aramesh unzählige Männerunterhosen aus feinstem Carrara-Marmor und würdigt in einer Klanginstallation die ehemaligen Träger, die ihr letztes Kleidungsstück vor dem Eintritt in ein Gefängnis ablegen mussten. Der Eintritt in diese drei Ausstellungen ist übrigens frei.
Im letzten Sommer traf ich im Appenzell, der Heimat meiner Mutter, die Kunststudentin Eliane Kölbener (*1994), die an der HFBK Hamburg die Typographie-Klasse von Wigger Bierma besucht. Im Rahmen ihres Langzeitprojekts Gmuured (Gemauert) recherchiert sie zu den Saisonarbeitern aus Oberitalien, die in den 1910er Jahren die hohe Stützmauer für das Berggasthaus auf dem Schäfler bauten. Die historische Arbeitsmigration spiegelt Kölbener in einer Fotoserie junger Schweizer Zivildienstleistender, die in den 2020er Jahren die Mauer im Alpstein renovierten. Unter den Schwarzweiß-Aufnahmen, die auf rund 2000 Meter Höhe analog entstanden sind, ist mir die Rückenaufnahme eines jungen Mannes aufgefallen, der auf einem Felsen steht und in die Ferne schaut. Sein schmaler, muskulöser Oberkörper ist unbekleidet und die Figur ist – trotz Dreadlocks und kurzer Hose – von einer faszinierenden statuenhaften Eleganz. Die junge Künstlerin präsentiert ihr Projekt in diesem Sommer im Museum Appenzell.
Darüber, was die sogenannte künstliche Intelligenz ist, wollte ich mit der Fotografin Barbara Klemm diskutieren, die ich sehr schätze. Daher besuchten wir gemeinsam die Ausstellung Liminal des französischen Künstlers Pierre Huyghe in der Punta della Dogana in Venedig. Im zentralen Raum, dem von Tadao Ando gestalteten Atrium, das zwei hohe Backstein-Pfeiler teilt, läuft Huyghes 2024 gestartete Filmarbeit Camata, die in Echtzeit von Künstlicher Intelligenz bearbeitet wird. Als wir in dem stark abgedunkelten Raum vor der übergroßen Kinoleinwand saßen, kamen die Bildenden Künstler Alice Creischer und Andreas Sieckmann aus Berlin/Wien, die am Studienzentrum eine Residenz hatten. Gemeinsam mit ihnen diskutierten wir ausgiebig darüber, was wir sahen, was wir empfanden und was wir über die sogenannte Künstliche Intelligenz wissen. So wurde aus dem Museumsraum eine Agorà, ein Ort der Begegnung, die weiter nachhallt. Andreas Siekmann hat uns auf den Essay AI machines aren’t ‘hallucinating’. But their makers are von Naomi Klein für den Guardian hingewiesen, den ich gerade mit Interesse lese.
Petra Schaefer studierte Kunstgeschichte, Germanistik und Christliche Archäologie in Heidelberg, Bologna und Bonn. Sie ist am Deutschen Studienzentrum in Venedig im Bereich der Kunstförderung – Bildende Kunst, Architektur, Literatur und Komposition – tätig. Neben ihrer kuratorischen Arbeit ist sie Herausgeberin von Kunstkatalogen und Autorin. Seit 2010 ist Petra Schaefer Korrespondentin der Weltkunst.