Für die Pariser Galerie „La Maison Moderne“ schuf Maurice Biais ein Plakat, das nicht nur das bekannteste, sondern vermutlich auch erste Plakat des Illustratoren ist. Eine Spurensuche
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05.08.2024
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Erschienen in
KUNST UND AUKTIONEN Nr. 12/2024
Die Pariser Galerie „La Maison Moderne“ wurde im Oktober 1899 in der Rue des Petits Champs 82 eröffnet. Gründer des Unternehmens war der zuvor in Berlin ansässige Schriftsteller und Geschäftsmann Julius Meier-Graefe (Resicabánya, Österreich-Ungarn 1867–1935 Vevey, Schweiz). Meier-Graefe war Ende 1895 nach Paris übergesiedelt, nachdem er aus der Redaktion der von ihm mitbegründeten Berliner Zeitschrift Pan ausgeschieden war. In Paris wurde er Mitarbeiter von Siegfried Bing (Hamburg 1838–1905 Vaucresson), der am 26. Dezember 1895 seine pionierhafte und für den neuen kunstgewerblichen Stil namensgebenden Galerie „L’Art Nouveau“ in der Rue de Provence 22 eröffnete. Erst im Januar 1899, nach dem Erhalt einer bedeutenden Erbschaft, konnte Meier-Graefe die Gründung eines eigenen Unternehmens in Konkurrenz zu Bing ins Auge fassen: Im Zentrum der Stadt sicherte er sich die passenden Räumlichkeiten, unterstützt durch eine Beteiligung des Schriftstellers Alfred Walter Heymel – zusammen mit seinem Cousin Rudolf Alexander Schröder Mitbegründer der Zeitschrift Die Insel im Jahr 1899 in Leipzig – in Höhe von 25.000 Mark. Zu den bedeutenden Mitarbeitern, die das Unternehmen von Anfang an begleiteten, gehörten Henry van de Velde, der junge Maurice Dufrène, Paul Follot, Abel Landry, die Bildhauer Georges Minne, Alexandre Charpentier und Bernhard Hoetger sowie der nach Paris übergesiedelte Belgier Georges Lemmen, der die Abteilung für Teppiche und Wandtapeten übernahm. Meier-Graefe verantwortete auch den alleinigen Vertrieb in Frankreich für die Erzeugnisse der „Vereinigten Werkstätten für Kunst im Handwerk“, 1897 in München von Richard Riemerschmid, Bruno Paul und anderen Künstlern gegründet, die sich in vielen Fällen als ehemalige Kunstmaler der dringend benötigten kunstgewerblichen Reformbewegung in Deutschland verschrieben hatten.
Für „La Maison Moderne“ schuf Maurice Biais (Maurice Amédée Louis Biais, Corbeil-Essonnes 1872–1926 Gorbio, Alpes Maritimes) das erste Plakat, das im Allgemeinen auf das Jahr 1900 datiert wird. Wenn diese Datierung stimmt, handelt es sich um Biais’ erstes Plakat, das gleichzeitig sein bekanntestes Werk überhaupt ist. Es folgte ein relativ kleines Œuvre von etwa 20 Plakaten, darunter aber klassisch gewordene Werke der Pariser Plakatkunst wie „Saharet“, „Jane Avril“, „Folies Bergère“ (in mehreren Versionen) und „Scala“. Biais war Meier-Graefe schon als Mitarbeiter von Bing bekannt, für den er Glas, Keramiken und Wandbilder entworfen hatte: Er war bis 1900 auch als Illustrator und Karikaturist in Paris tätig. Er war Sohn eines wohlhabenden Notars und nahm sehr aktiv Teil am Nachtleben auf dem Montmartre. Er war mit der berühmten Revuetänzerin Jane Avril liiert, für die auch Toulouse-Lautrec Plakate entwarf, ihr gemeinsamer Sohn wurde 1897 geboren, geheiratet wurde erst 1911. Biais war viel unterwegs, um seinen Schuldnern zu entkommen, war spielsüchtig, dem Alkohol zu sehr zugetan und rauchte unaufhörlich. Er kommunizierte nicht mit seiner Familie und verschwand wochenlang. Meier-Graefe erkannte dennoch sein großes Talent und förderte Biais durch Aufträge für Möbel, Leder -und Marqueterie-Arbeiten, darunter ein eingelegter Holzrahmen nach dem Vorbild von Otto Eckmanns Scherrebeker Wandbild „Fünf Schwäne“, 1897. Biais’ wohl erstes Plakat zeigt eine elegante Dame in Rückansicht, vor einem Aufsatzregal nach Entwurf von Henry van de Velde stehend: Sie schaut sich die darauf ausgestellten Objekte an, bei denen unter anderem eine Katze und eine Vase von Bing & Grøndahl, eine Tischlampe von Maurice Dufrène, eine Bronzefigur von Minne sowie weitere skandinavische und französische Keramiken zu erkennen sind. Es muss für Biais eine diebische Freude, ganz im Sinne seiner unsteten, aber wohl gern gelebten Existenz gewesen sein, gerade diese anonyme elegante Dame beim Weltmann Meier-Graefe untergebracht zu haben, denn die Dame ist ganz gewiss „eine Dame der Nacht“, die entweder tatsächlich einmal den Laden aus Kuriosität betreten hat, oder der schrägen Fantasie des Künstlers entstammt, der einfach Freude an der Diskrepanz zwischen der Halbwelt und der Welt des Luxus empfand.
Der Beleg für diese Annahme, die bestens zu unseren Vorstellungen von Paris um 1900 passt, bietet der bisher unveröffentlichte Umschlag der Pariser Zeitschrift Le Journal pour tous, 22. März 1900, von Maurice Biais gezeichnet. Im Hintergrund steht eine anonyme, elegante Dame in Rückansicht vor einem Kamin, auf dem einige moderne Vasen stehen. Sie hebt dabei vorne den Rock an und wärmt sich vor dem Feuer. Im Vordergrund sitzt eine noch elegantere Dame am Tisch mit einem einigermaßen heruntergekommen aussehenden jungen Mann, der tatsächlich wohl eine Selbstkarikatur des Künstlers ist. Die Bildunterschrift lautet: „Elle est bien gentille, ton amie, mais pourquoi diablesse chauffe t’elle tout le temps? Délicate attention, mon cher, pour te faire comprendre qu’elle aime la braise.“ – Wir sind also definitiv im Bordell, wie auch die Gestalt des Mannes im Hintergrund rechts andeutet. Hier die Übersetzung. „Sie ist sehr nett, deine Freundin, aber warum zum Teufel wärmt sie sich die ganze Zeit? – Delikat beobachtet, mein Lieber, um dir zu verstehen zu geben, dass sie die Glut liebt“ – Und hier muss man wissen, dass das französische Wort „braise“ in der Sondersprache „Argot“ der französischen Gauner und Bettler „Geld“ bedeutet.
Ob Meier-Graefe bekannt war, welches Ei Biais ihm anhand seines Plakats ins Nest gesetzt hat, ist nicht bekannt, auffallend ist vor diesem Hintergrund das zweite Plakat, das er für sein Haus anfertigen ließ. Dieses stammt von Manuel Orazi (1860–1934), Paris 1902. Eine junge Dame aus bestem Hause, der bildliche Inbegriff eines moralisch untadeligen Lebens darstellend, ihr Haar mit teuren Schmuckarbeiten von Orazi geschmückt, eine Kundin, nicht nur eine gesichtslose Besucherin, sitzt in Seitenansicht in einem Armstuhl von van de Velde vor einer Auswahl kunstgewerblicher Objekte. Sie ist in der untadeligen Haltung von J. M. Whistlers „The Artist’s Mother“ aus dem Jahr 1871 dargestellt‚ damals – ab 1891 – im Musée du Luxembourg, heute im Pariser Musée d’Orsay. Bei der jungen Dame handelt es sich augenscheinlich um die überall respektierte Cléo de Mérode (1876–1966), Tänzerin an der Pariser Oper, 1901 erstmals in den Folies Bergère aufgetreten und berühmt als Siegerin im allerersten Schönheitswettbewerb, der 1896 in Paris von der Zeitung L’Eclair organisiert wurde: Es hatten sich „131 jolies actrices“ gemeldet. Nun war Meier-Graefe werbemäßig auf festerem Boden – falls es vorher Getuschel gegeben hat, was anzunehmen ist, musste es jetzt verstummen.