Per Du mit Duchamp

Gruß aus der Hängematte

Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Weltkunst-Kolumne. In Folge 4 geht es um die zahlreichen Orte, an denen der Avantgardist am liebsten Urlaub machte

Von Thomas Girst
09.08.2024

Mitte Oktober 1912 machen sich von Paris aus der Tausendsassa, Ausnahmekünstler und Autosammler Francis Picabia, der Dichter, Kritiker und Avantgardist Guillaume Apollinaire und Marcel Duchamp nach Étival auf, eine kleine Gemeinde im französischen Juragebirge mit nicht mehr als ein paar hundert Einwohnern. 500 Kilometer Wegstrecke, die als der erste Roadtrip der Kunstgeschichte gilt. Duchamp ist gerade mal 25 Jahre alt. Es regnet oft fürchterlich und mit Blick auf die Scheinwerfer bei Nacht macht er sich im Auto Notizen. Er schreibt von den Lichtkegeln der Frontlampen als „Scheinwerferkind“, als einen „Kometen“, der seinen „Schweif vor sich herführt“ und den „Goldstaub der Jura-Paris Route absorbiert, indem er diesen zermalmt“. Bei Duchamp machen konzise Beobachtungen und Gedankenexperimente seinen Blick auf die Welt aus, selten sind sie so poetisch wie bei diesem Ausflug. Vielleicht liegt es auch daran, dass er Picabias Frau Gabrielle liebt, die Francis mit seinen Freunden besuchen fährt. Bis auf Marcel und Gabrielle, die mit ihren zwei kleinen Kindern im Bauernhaus ihrer Mutter weilt, weiß niemand, dass Duchamp nur wenige Wochen zuvor schon einmal dort war. Voll unerfülltem Verlangen reiste er von München aus an. Vor dem dreimonatigen Besuch in der bayerischen Hauptstadt auf Einladung seines Malerfreundes Max Bergmann hatte er noch nie zuvor Frankreich verlassen. Und nun, so erinnerte sich Gabrielle später, saß dieser von Deutschland über den Bodensee und die Schweiz angereiste junge Mann ihr eine ganz Nacht lang mit unerwidertem Begehren in der kleinen Bahnhofsstation Andelot-en-Montagne gegenüber, wo sie ihren Zug nach Paris bewusst verpasste, um ihm wenigstens ein Rendezvous und eine Aussprache zu gewähren.

Marcel Duchamp Andelot-en-Montagne
An der Bahnhofsstation Andelot-en-Montagne saßen Gabrielle Buffet-Picabia und Marcel Duchamp während ihres Rendezvous. © WIkimedia Commons

In Étival wurden bereits vor über einem Jahrzehnt drei kleine Straßen nach Duchamp, Picabia und Apollinaire benannt. Das Bauernhaus gehört noch heute Picabias Nachfahren, auf Anfrage kann man es besuchen, das Wohnzimmer wurde so belassen, wie es 1912 ausgesehen haben soll. Und der kleine Bahnhof, etwa 50 Kilometer nördlich gelegen, hat sich ebenfalls seit 1912 kaum verändert. München, Étival, Andelot-en-Montagne, wo hat sich Duchamp, der die meiste Zeit seines Lebens zwischen New York und Paris pendelte, noch überall zum Urlaub aufgehalten? Im Sommer 1913 etwa im Küstenort Herne Bay südöstlich von London, wohin er seine Schwester Yvonne begleitete, die dort Englisch lernte. Seine Schachspiele für die französische Nationalmannschaft ab den Zwanzigerjahren und internationale Turniere ließen ihn zudem viel reisen, ob in Europa nach Den Haag, Prag, Hamburg, Brüssel, Chamonix, Nizza oder Folkstone sowie spätere Wettkämpfe für die New York State Chess Championships quer durch den amerikanischen Bundesstaat. Seit den Dreißigerjahren kam er zudem immer wieder nach Los Angeles, wo seine Sammler, das Ehepaar Louise und Walter Arensberg, wohnten und wo ihm das Pasadena Art Museum 1963 seine erste große Retrospektive ausrichtete. In einer Welt voller Kriege verschlug es ihn derweil auch unfreiwillig an zahlreiche Orte. Schon 1918 reiste Duchamp fast für ein ganzes Jahr nach Buenos Aires, als er von New York nach Argentinien floh, um nicht doch noch als Soldat in den Ersten Weltkrieg eingezogen zu werden. Im Zweiten Weltkrieg gab er sich im von den Nazis okkupierten Paris als Käsehändler aus, um für seine Kunst wichtige Materialien aus Europa zu schmuggeln, das er 1942 über Marseille und Casablanca nach New York verließ.

Die Duchampforschung misst vielen seiner Gelegenheitsaufenthalte große Bedeutung bei. So sind München und Herne Bay essentiell für seine Idee der Readymades und seine Arbeit am „Grossen Glas“ (1915–1923). In Buenos Aires bastelte er aus zerschnittenen Badekappen seine „Sculpture de Voyage“ (1918), die Geburtsstunde von Raumskulpturen und Soft Art – fast ein halbes Jahrhundert vor Claes Oldenburg. Im August 1946 verweilt er fünf Wochen in der Schweiz und fotografiert nahe Chexbres den Forestay Wasserfall am Genfer See, ein wichtiger Bestandteil seines im Geheimen geschaffenen, erst posthum präsentierten Hauptwerks „Gegeben sei: 1.) der Wasserfall, 2.) das Leuchtgas“ (1946–1966). Und bei einer Reise an den Basswood Lake in Minnesota hinterlässt er den Gastgebern auf deren Hausboot das kleine Blatt „Mond über der Basswood Bucht“ (1953), das als Material erstmals Schokolade in der Kunst verwendet.

Nachdem Duchamp 1954 mit 66 Jahren Alexina Sattler heiratet, reist er zweimal mit ihr nach Mexiko. Ansonsten hält er sich auch gerne in Südfrankreich auf, wie etwa 1958 bei seiner Schwester in Sainte-Maxime. Aber wenn wir uns auf ein Feriendomizil bei Duchamp einigen, dann wäre das immer das kleine katalanische Fischerdorf Cadaqués. 1933 war er das erste Mal dort, ab 1958 kam er jeden Sommer, auch 1968 bis wenige Wochen vor seinem Tod. Das Café Meliton, wo er Schach spielte, gibt es noch immer. Ab und an kam Man Ray vorbei und sie frotzelten gemeinsam über die jungen Menschen am Strand. Duchamp konnte nicht schwimmen, aber er kümmerte sich um seine Korrespondenzen, lümmelte in der Hängematte herum, schuf einen Badewannenstöpsel als metallene Kunstedition, ließ aus einem Ort in der Gegend die massive Holztür und die Ziegel für „Gegeben sei…“ nach New York verschiffen, entwarf einen Kamin – solche Sachen halt. Und er baute einen Sonnenschutz, den man ganz oben auf der Dachterrasse des Hauses am Carrer Dr. Pons noch immer von der Strandpromenade aus bewundern kann. Und wer hätte das gedacht? Marcel Duchamp kam mit Salvador Dalí, der fußläufig nebenan in Port Lligat wohnte, wo er zwischen 1930 und 1982 kleine Fischerhäuser zu einem riesigen, mäandrierenden Landgut mit Meerblick umbaute, so herrlich zurecht, dass sie sogar miteinander Werke schufen. „Zwei Menschen auf einer Wellenlänge“, wie ein Assistent Dalís das einmal umschrieb. Welle, hat hier jemand wirklich Welle gesagt? Na dann ab ins Wasser – und genießen Sie den Urlaub!

Sonnenschutz Marcel Duchamp
Der Sonnenschutz ganz oben auf der Dachterrasse des Hauses am Carrer Dr. Pons kann noch immer von der Strandpromenade aus bewundert werden. © ResearchGate/Pierre-François Puech

Hier geht’s zu Kolumne 2 und hier zu Kolumne 3 von „Per Du mit Duchamp“.

Service

Der Kolumnist

Thomas Girst war Gründungsredakteur von „Tout Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal“ (1999-2003) und Ko-Kurator der Ausstellung „Marcel Duchamp in München 1912“ im Lenbachhaus 2012. Er ist Autor von „The Duchamp Dictionary” (2014) sowie zahlreicher Publikationen über den Künstler.

Zur Startseite