In Saint-Denis wurde einst die gotische Architektur erfunden, doch das Klischee der Pariser Vorstadt handelt von Armut und Drogen. Dabei ist vieles im Umbruch. Heute genießen abseits des olympischen Dorfes Kreative die Freiräume für innovative Ideen
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06.08.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 229
Sie ist berüchtigt und gehört zu Paris wie der Eiffelturm: die Banlieue. Auf Deutsch heißt das „Bannmeile“, so betitelte jüngst die deutsch-französische Schriftstellerin Anne Weber ihren dokumentarischen „Roman in Streifzügen“ in die Vororte außerhalb der 35 Kilometer langen Stadtautobahn, des Boulevard périphérique. Die Ringstraße wurde von 1956 bis 1973 auf den Fundamenten der Stadtmauer errichtet. Sie wirkt noch heute, trotz urbanistischer Zusammenschlussbemühungen des Projekts „Grand Paris“, wie ein Schutzwall für das historische, das typische Paris der atmosphärischen Cafés, der berühmten Museen und der Hausmann’schen Architekturpracht. Jenseits lauern Gefahren, im kollektiven Imaginären der Innenstadt-Pariser gibt es dort nur brennende Autos, Gewalt, Drogen, Elend.
Brauchen wir für diesen Kunstspaziergang besonderen Mut? Wohl kaum: Das berüchtigte Departement Seine-Saint-Denis, auf das die Pariser verkürzt mit seiner Kennnummer 93 („Nöff-Troa“) verweisen, ändert sich nicht zuletzt durch aktiven Einsatz der Kunst seit Anfang der 2000er-Jahre – und dürfte am meisten von den 9 Milliarden Euro Investitionen in die Olympischen Spiele profitieren. Der Schweizer Künstler Thomas Hirschhorn hat am Canal Saint-Denis seit Langem sein Atelier. Das kollektive Pan Café, betrieben von der Künstlerin Cécile Paris auf der malerischen Seine-Insel Île Saint-Denis, ist dank inspiriertem Programm ein Geheimtipp. Im nördlichen Teil des Départements befindet sich in Le Bourget der Pariser Privatflughafen mit einem Luftfahrtmuseum. Eine der drei Pariser Dependancen des amerikanischen Galeristen Larry Gagosian spekuliert hier auf einfliegende Großsammler. Etwas südlich vom Flughafen wurden die Sportanlagen von Le Bourget erweitert, darauf vier neue Wände für olympische Kletterathleten.
Noch weiter nördlich ist Clichy-sous-Bois Austragungsort der Paracyclisten, des Radrundrennens im Rahmen der Paralympics. 2005 tobten tagelang gewalttätige Proteste, heute wirken hier die Ateliers Médicis. Errichtet vom Architekturstudio Encore Heureux, geht das nach dem Modell der Kulturinstitution Villa Medici in Rom entwickelte Projekt auf die Idee des Radiojournalisten Jérôme Bouvier zurück. Er wollte nach den Krawallen einen Ort schaffen, an dem Kreative aus aller Welt mit den Einwohnern zusammenwirken. Mit 3,7 Millionen Euro Subventionen entstand ein erstes Gebäude sowie ein umfangreiches Programm zur Künstlerförderung in ganz Frankreich. 2025 wird ein zweites Haus fertiggestellt. Der Filmemacher Ladj Ly („Les Misérables“) hat dort mit der École Kourtrajmé eine kostenlos zugängliche Filmschule eingerichtet. Kunstschaffende arbeiten mit Schulen und örtlichen Vereinen zusammen. Außerdem sind die Ateliers Teil des Programms der „Kultur-Olympiade“. Als alternativer Freizeitpark angelegt, haben Schüler eines lokalen Berufsgymnasiums unter Leitung des Künstlers Neïl Beloufa die interaktive Ausstellung „Goldrausch“ eingerichtet. Wenn die Schau dort am 27. Juli endet, wird ein Teil davon immer noch in den Räumen des Kooperationspartners Lafayette Anticipations im Innenstadtviertel Marais zu sehen sein (bis 1. September). In der nördlichen Banlieue schimmert also langsam, trotz aller noch spürbaren Misere, mehr selbst organisierte Zukunft am Horizont.
Der Gentrifizierung widerstehe man noch, sagen lachend einige Anwohner von Saint-Denis. Und berichten dann, mit einem Ausdruck zwischen Begeisterung und Ermüdung, vom Zusammenleben in der multikulturellen „Konfetti“-Stadt aus 120 Nationalitäten, von der Arbeitervergangenheit, der überwiegend bretonischen Einwanderung in den 1950er-Jahren. Der Legende nach ist der Ort Endpunkt des Martyriums des Missionars und ersten Pariser Bischofs Dionysius von Paris. Auf Anordnung des römischen Statthalters auf dem Montmartre enthauptet, soll er seinen Kopf sechs Kilometer weit nach Norden getragen haben. Dort wo er niederstürzte, wurde er begraben und ihm zu Ehren jene Abteikirche errichtet, die sich später in die Kathedrale Saint-Denis verwandelte. Seit 546 nach Christus war sie Grablege der französischen Könige.
Zu Olympia gibt es im Viertel Kunstschwimmen, Wasserpolo und Turmspringen. Dafür wurde der geschwungene Holzbau des olympischen Schwimmbades mit 5000 Sitzplätzen errichtet, die einzige Olympia-Arena, die dauerhaft bleiben wird. Nördlich, entlang des Kanals auf ehemaligen Industriebrachen, ist auf 15 Hektar das olympische Dorf entstanden. Ein ganzes Quartier mit 6000 Wohnungen, Schulen, Einkaufsmöglichkeiten und 9000 neuen Bäumen ist hier aus dem Boden gewachsen. Nach den Spielen werden das Studentenwohnungen und teure Eigenheime.
Das sei Gentrifizierung mit Sport, sagen Kritiker. Solche Stadtplanung mit der Dampfwalze, die Tausende von Menschen umsiedelt, Sozialwohnungen noch weiter vom Stadtzentrum entfernt, verdränge soziale Ungleichheit nur und stehe „in völligem Widerspruch zu den Bedürfnissen der unteren Bevölkerungsschichten, die seit Jahrzehnten verarmen“, analysieren Anne Clerval und Laura Wojcik in ihrem Buch „Les naufragés du Grand Paris Express“ (2024). Solche Kritik, die sich auch in lokalen Aktionen wie „Feiern gegen Olympia“ manifestiert, wurde von Bürgermeisterin Anne Hidalgo neulich mit einem Handstreich weggewischt, die alle, die gegen die Olympischen Spiele seien, als „Spielverderber“ und „Miesepeter“ verunglimpfte. Für sie wie für viele andere Politiker sind die Erneuerung der heruntergekommenen Gegend und die zusätzlichen Unterkünfte für immerhin rund 23.000 Studierende ein Fortschritt, koste es, was es wolle. Bis das Ganze tatsächlich wohnlich und von der örtlichen Bevölkerung angenommen wird, stehen die olympischen Installationen wie Ufos in der Gegend herum.