Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In Folge 5 geht es um Duchamps Notizen und nicht realisierten Projekte
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26.09.2024
Es gibt wohl niemanden von uns, der nicht Dinge beständig vor sich herschöbe wie ein Schiff seine Bugwelle. Eine Besorgung, ein Projekt, irgendetwas Ambitioniertes. Der Gedanke daran nagt an einem und vermag es, die schönsten Tage zu verhageln. Prokrastination ist der pathologische Fachbegriff für den Schlendrian der steten Aufschieberei. Proust schrieb von der stets willkommenen Versuchung der Ablenkung, die uns davon abhält, unsere ureigenen Tiefen zu erkunden. Apple-Gründer Steve Jobs gab hingegen nichts auf Ideen, die habe schließlich jeder, was zähle, sei einzig das Durchhaltevermögen, die Ausdauer, die Durchsetzungsfähigkeit bis zur tatsächlichen Umsetzung. Von Künstlerinnen würde man meinen, sie leben das aus, wozu wir selbst die Zeit nicht finden oder nicht finden wollen.
Gleichwohl, selbst die kreativsten Schaffenskräfte können nicht immer alles wuppen, was ihnen so vorschwebt. Das 800 Meter lange Luftschiff von Jeff Koons etwa, dreimal so groß wie die Hindenburg und inspiriert von Man Rays Gemälde der frei im Himmel gleitenden roten „Lippen“ (1936) von Lee Miller, harrt noch auf Realisierung. Genauso wie Édouard Glissants „Archipelago Museum“ auf Martinique, Alina Szapocznikows Pläne eines riesigen Rolls Royce aus Marmor für die Documenta von 1972 oder Gregor Schneiders kontroverser wie monumentaler „Venice Cube“ für den Piazza San Marco (2005) anlässlich der Venedig-Biennale. Woher wir das wissen? Vor allem von Hans Ulrich Obrist, dessen „Agency of Unrealized Projects“ schon seit drei Jahrzehnten sammelt, was Künstlerinnen gerne so alles gemacht hätten, aber aus welchen Gründen auch immer eben nicht dazu kamen.
Obrist ist übrigens nicht der einzige Ausstellungsmacher, der sich bei seinem Tun immer wieder auf Duchamp beruft. Für international umtriebige Kuratoren wie Ann Temkin, Massimiliano Gioni, Susanne Pfeffer, Udo Kittelmann, Chris Dercon oder Elena Filipovic bleibt Marcel Duchamp wegweisend. Die von Ai Weiwei gestellte und mittlerweile von Ansteckbuttons, Socken, T-Shirts und Kaffeetassen prangende Frage „What would Duchamp do?“ bleibt für die kuratorische Praxis im 21. Jahrhundert ebenfalls spannend. Für seine „Unrealized Projects“-Projekt konnte Obrist indes den Künstler nicht mehr selbst befragen. Duchamp verstarb 1968, da war Obrist gerade mal fünf Monate alt.
Auch bei Duchamp blieb vieles Gedanke und Notizzettel. Letztere veröffentlichte er größtenteils zu Lebzeiten, in sorgsam faksimilierten Editionen seiner Handschrift, im Alter von 26 Jahren bereits in der Schachtel von 1914, der Grünen Schachtel (1934) sowie der Weißen Schachtel „À l’infinitif“ (1966). Die 94 Blätter der „Grünen Schachtel“ enthalten das Narrativ zu Marcel Duchamps Hauptwerk, der großen Arbeit auf Glas, „Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar“ (1915–1923), die letztlich unvollendet blieb – vielleicht im Wissen darum, dass das „non-finito“ bereits in Leonardos posthum erschienenem „Traktat über die Malerei“ zumindest in der Kunst auch als große Könnerschaft durchgeht.
Nur was, wenn man gar nicht erst anfängt, wenn sich Geschriebenes nicht in Werken manifestiert? Zwölf Jahre nach Duchamps Tod publiziert dessen Stiefsohn Paul Matisse 1980 gemeinsam mit dem Centre Pompidou die „Notes“, insgesamt 289 bislang zumeist unveröffentlichte Notizen. Etwa 40 davon sind als „unrealized projects“, wie es im Vorwort heißt, zusammengefasst. Darin findet sich die Idee für „ein Kubikzentimeter Tabakrauch, von innen und außen mit wasserdichter Farbe bemalt“, von Readymades, die alle das gleiche, im Voraus festgelegte Gewicht haben müssen, so sie im selben Jahr entstehen. Duchamp denkt über ein unter Fußböden installiertes Instrument nach, das mit den Lettern „Spucken verboten“ aufleuchtet, sobald man ebendies tut. Und vieles mehr: Der Film eines Boxkampfes, komplett im Dunkeln aufgezeichnet, nur die Boxhandschuhe leuchten weiß. Ein weiterer Film, von „elektrischen Leitungen, vom fahrenden Zug aus gesehen“. Ein Klavier, das auf der Bühne im dunklen Saal gestimmt wird, „technisch, um jedwede Musikalität zu vermeiden“. Mit einer Kamera vor dem Bauch geschnallt durch die Straßen oder das Atelier laufen. Linien, die sich wie Würmer herumbewegen, erst langsam und dünn, dann immer schneller und breiter werdend, erst schwarzweiß, dann bunt.
Einer ebenfalls in den „Notes“ enthaltenen, 1940 erstmals in André Bretons „Anthologie des Schwarzen Humors“ publizierten Notiz Duchamps entnehmen wir dessen Idee eines „Transformators zur Nutzung überschüssiger Energie“, die beim „erhöhten Druck von elektrischen Schaltern“, „Ausatmen von Tabakrauch“, „Fallen von Urin und Exkrementen“ und durch „Strecken, Gähnen, Niesen“, das „Herabkullern von Tränen“ oder „demonstrative Gesten“, „Stolpern“, „Seufzen“, „verbotene Blicke“ und dergleichen mehr entsteht. Tatsächlich sind über achtzig Jahre später elektromagnetische Biomechanical Energy Harvester im Rahmen der Neurowissenschaften nicht unwesentlicher Bestandteil der Forschung zur energieeffizienten Nutzung von Mobilgeräten. Als deren Erfinder gilt Max Donelan, Professor für Kinesiologie an der Simon Fraser University in Vancouver, Kanada. Dass er seine Initialen mit Marcel Duchamp teilt, darüber lächeln wir gerne mit überreichlich Energie.
Hier geht’s zu Kolumne 4 und hier zu Kolumne 3 von „Per Du mit Duchamp“.
Thomas Girst war Gründungsredakteur von „Tout Fait: The Marcel Duchamp Studies Online Journal“ (1999–2003) und Ko-Kurator der Ausstellung „Marcel Duchamp in München 1912“ im Lenbachhaus 2012. Er ist Autor von „The Duchamp Dictionary” (2014) sowie zahlreicher Publikationen über den Künstler.