Nach dem Zweiten Weltkrieg lag die Stadt München in Trümmern. Der Fotograf Herbert List hielt ihre Ruinen in eindringlichen Bildern fest: als Dokument der Zerstörung, aber auch als Reminiszenz an die antiken Stätten Griechenlands
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11.11.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 233
Statt Fleisch und Wurst türmen sich Steine, wo einst ein Laden war. Schließzeiten kennt die Metzgerei in der Ottostraße nicht mehr. Wozu auch? Hier steigt man rund um die Uhr über Mauern, die nur noch Trümmer sind. Keine Auslage, kein Personal: München ist zu Staub zerfallen. Am Regina-Palast-Hotel zeichnet schwarzer Armierungsstahl ein abstraktes Motiv in den Himmel, Justus von Liebig fehlt der Kopf − sein Denkmal am Maximiliansplatz steht zwischen zerfetzten Bäumen. Nur die Statue von Kurfürst Max Emanuel am Promenadeplatz hält weiter einen Schild in ihrer Hand, die andere fuchtelt kriegsbereit mit dem Schwert. Doch wer will das noch?
Das Kind auf dem Foto von Herbert List sammelt Holz für den nahen Winter, es geht ums Überleben. List selbst streift mit der Kamera durch eine zerbombte Stadt, in die er 1941 gezogen war. Nicht freiwillig, sondern über Paris, London und Griechenland, immer weg von den Nazis, die er wegen seiner jüdischen Vorfahren und kritischen Haltung fürchtete. Nach dem deutschen Balkanfeldzug ließ sich List, der 1903 als Sohn eines Kaffee-Importeurs in Hamburg auf die Welt kam, schließlich doch in Hitlers sogenannter Führerstadt nieder. Zur Fotografie war er erst 1930 gekommen, zeitgleich faszinierte ihn das Surreale in der Kunst von René Magritte, Man Ray und Giorgio de Chirico.
Fünf Jahre später gab List die Führung des familiären Geschäfts an seinen Bruder ab, reiste in die französische Metropole und eröffnete dort seine erste Ausstellung in der Galerie du Chasseur d’Images. In London experimentierte er mit Studiofotografie und arbeitete bald im Auftrag von Vogue, Life oder Harper’s Bazaar. Sein Interesse an Architektur und Antike manifestiert sich in Griechenland, wohin List mit dem legendären Modefotografen George Hoyningen-Huene eine Reise unternommen hatte. Hier entstanden die Impressionen für den Bildband „Licht über Hellas“, eine Feier der mediterranen Landschaft und ihrer antiken Ruinen.
München hatte der Zweite Weltkrieg in Schutt gelegt, 1945 war nahezu die Hälfte der Bausubstanz zerstört. Die Stadt, die Jahrhunderte in barocker Pracht schwelgte und sich später dem Klassizismus verschrieb, bot einen „Anblick imposanter Jämmerlichkeit“. So sah es Ludwig Emanuel Reindl, der zur Veröffentlichung von Lists ersten Trümmerbildern im Magazin Du einen essayistischen Text schrieb.
Dass die Fotografien mit den gefallenen Löwen vor dem Siegestor oder vom zerstörten Löwenbräu in der Nymphenburger Straße 1947 in einem Schweizer Medium erschienen, ist ein Phänomen jener Zeit: In Deutschland gab es mit Hermann Claasen, Richard Peter, Chargesheimer oder Friedrich Seidenstücker legendäre Chronisten der von den Alliierten bombardierten Städte Köln, Berlin und Dresden. Nur wollten die Deutschen so kurz nach dem Krieg keine Bilder sehen, die sie mit den Folgen der NS-Zeit und so auch mit ihrem eigenen moralischen Versagen konfrontierten.
In München, schreibt Fotografieexperte Ludger Derenthal im Katalog „Memento 1945“, der Mitte der Neunzigerjahre anlässlich der ersten Ausstellung von Lists Nachkriegsbildern im Münchner Stadtmuseum erschien, entschied man sich 1949 zwar zum Ankauf diverser Ruinenbilder. Doch sie alle waren gezeichnet, aquarelliert oder gemalt. Im Kulturausschuss war man sich damals einig, dass die Fotografie weit weniger geeignet sei, die Zerstörungen nachhaltig zu dokumentieren. Was für ein Irrtum! Schließlich entschied sich im Sommer 1966 die Sammlung Grafik und Gemälde des Münchner Museums doch um, und verwahrt seither die Aufnahmen.
Herbert List gelingt es in jedem Bild, den Verlust gegenwärtig zu machen. Obwohl oder gerade weil er, geschult an seinen surrealen Vorbildern, so gut wie nie die Perspektive sachlicher Distanz wählt. Stattdessen lässt er die Bronzen der Wittelsbacher Herrscher in Rückenansicht wie verwirrt und obdachlos in einer fremd gewordenen Heimat auf der Straße stehen. Sein Blick auf die Michaelskirche führt durch den gewölbelosen Chor in den Himmel und betont die Fragilität der Fassaden. Bei List werfen Mauern lange Schatten, seine Architektur ist menschenleer, kontrastreich und erinnert mehr als einmal an de Chiricos magisch inszenierte Gemälde. Manchmal, wie im Fall des Nationaltheaters, fokussiert List ausschließlich auf die antikisierenden Säulen. Aus der fragmentierten Architektur ersteht in solchen Momenten ein Nachbild jener hellenistischen Ruinen, denen der Fotograf in Griechenland begegnet ist. Man kann das aus heutiger Sicht für romantisierend halten, eine Verharmlosung des Schreckens, der einen zwischen den Trümmern erfasst haben muss. Doch die Ödnis der Stadt und der Grad ihrer Zerstörung spiegeln auch Lists inneren Zustand, der sich brutal von der Vergangenheit, der von ihm geschätzten Romantik und dem Surrealismus, abgeschnitten sah.
Wie viel sich wieder aufbauen lässt, architektonisch wie kulturell, konnte List sich direkt nach dem Zweiten Weltkrieg nicht vorstellen. Seine Fotografie aber wirkt bis heute ganz unmittelbar, erinnert an und warnt vor den schweren Verlusten, die jeder Krieg mit sich bringt. Zugleich führt sie eindrucksvoll vor, dass ein herausragender Fotograf wie Herbert List mit seinem künstlerischen Blick auch diesem Sujet eine individuelle, überzeitliche Perspektive abgewinnt. Nachvollziehen lässt sich das bald drei Jahrzehnte nach der Ausstellung im Stadtmuseum, wenn der Verlag Schirmer/Mosel das Buch „Memento 1945 − Münchner Ruinen“ mit Lists Fotografien im Mai 2025 neu herausbringt.