Vor Chemnitz trugen bereits das Ruhrgebiet mit Essen, Weimar und West-Berlin den Titel Kulturhauptstadt Europas. Was hat das diesen Städten gebracht? Und was ist davon geblieben?
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02.01.2025
Mit Chemnitz kann sich zum vierten Mal eine deutsche Stadt als Kulturhauptstadt Europas präsentieren. Die Sachsen haben dazu unter dem Titel „C the Unseen“ ein Programm mit mehr als 200 Projekten gezimmert, das Kulturinteressierte aus dem In- und Ausland anlocken soll.
Wie kann der Titel eine Stadt verändern und was bleibt in den Jahren danach? Ein Blick nach Berlin, Weimar und ins Ruhrgebiet, wo das Kulturhauptstadtjahr 2010 von einem Unglück mit 21 Toten überschattet wurde.
Berlin ist noch eingemauert, als der West-Teil der Stadt 1988 vierte europäische Kulturhauptstadt wird – nach Athen, Florenz und Amsterdam. Berlin ist die erste deutsche Stadt, die diesen Titel trägt. Und in Zeiten des Kalten Krieges ist das Kulturhauptstadtjahr auch ein politisches Zeichen.
„In Berlin waren stets die Einflüsse aus West und Ost, aus Nord und Süd zu spüren“, sagte der damalige Bundesminister des Auswärtigen, Hans-Dietrich Genscher (FDP), im November 1988 bei der Abschlussveranstaltung. Ohne diese internationale Vielfalt sei Berlin gar nicht zu denken. Wer sich hier vorstelle, stelle sich der Welt vor. Auch Beiträge aus der damaligen Sowjetunion zum Kulturleben Berlins – etwa Auftritte der georgischen Philharmonie – hob der 2016 gestorbene Politiker damals hervor.
Ein nach wie vor bekannter Spielort in der Theaterszene ist das Hebbel-Theater im Stadtteil Kreuzberg. Das Haus wurde anlässlich der 750-Jahrfeier Berlins 1987 renoviert und im Kulturhauptstadtjahr für internationale Produktionen und Gastspiele genutzt. Man habe damals mühselig Publikum in diese Ecke der Stadt gelockt, sagte die Mitgestalterin des Kulturhauptstadt-Programms und Intendantin des Hebbel-Theaters bis 2003, Nele Hertling, 2018 im Deutschlandfunk Kultur. Das Haus habe am Rande der Mauer gelegen, niemand habe es gekannt.
Mehr als zehn Jahre später ist nach Berlin dann Weimar im Osten Deutschlands 1999 die Kulturhauptstadt Europas. Knapp sieben Millionen Menschen besuchen die beschauliche Stadt in Thüringen aus diesem Anlass. Einst wirkten dort Geistesgrößen wie Goethe, Schiller und Herder, nun rückt Weimar mit dem Titel in die Ränge früherer Kulturhauptstädte wie Paris und Athen vor.
Der Status brachte Weimar aus Sicht der Stadtverwaltung einen Modernisierungsschub: Straßen wurden saniert, auch Teile des heutigen Unesco-Welterbes, das Stadtschloss, das Goethe-Nationalmuseum und der Bauhaus-Musterbau „Haus am Horn“ wurden auf Vordermann gebracht. „Weimar ist durch 1999 internationaler und weltoffener geworden“, so die Bilanz. „Geblieben ist nach Meinung vieler auch die Verortung des Vermächtnisses von Buchenwald und der Auseinandersetzung mit der NS-Zeit im Selbstverständnis der Stadt“, erklärt Stadtsprecher Andy Faupel.
Bleibend ist auch ein international viel beachtetes Projekt: Der Dirigent Daniel Barenboim und der inzwischen gestorbene Kulturtheoretiker Edward Said leiteten einen Workshop mit israelischen, palästinensischen und anderen arabischen Musikerinnen und Musikern. Das so entstandene West-Eastern Divan Orchestra spielte auch 25 Jahre nach seiner Gründung zuletzt mehrere Konzerte im vom Krieg in Nahost geprägten Jahr 2024.
Eine heftige Debatte über den Stellenwert von DDR-Kunst löste die Ausstellung „Aufstieg und Fall der Moderne“ aus. Auch andere Projekte waren umstritten, zudem sorgten Angriffe von Neonazis auf Besucher und Projekte für Negativ-Schlagzeilen.
Mit dem Ruhrgebiet trat dann 2010 erstmals eine ganze Region mit 53 Kommunen und mehr als fünf Millionen Einwohnern als Kulturhauptstadt-Veranstalter an. Deutschlands größter industrieller Ballungsraum hatte damals noch mehr als heute mit Vorurteilen zu kämpfen. Doch über zehn Millionen Besucher erlebten die Region damals nicht als dreckig, arm oder kulturlos – im Gegenteil.
Ex-WDR-Intendant Fritz Pleitgen moderierte ein Programm, das zwischen Spitzenkultur wie einer Auftrags-Oper von Hans Werner Henze und breitenwirksamen Großveranstaltungen pendelte. Dazu gehörte ein Gesangstag für das ganze Ruhrgebiet und die Sperrung der wichtigsten Ruhr-Autobahn A40 für Kleinkunstangebote und gemeinsames Feiern an Biertischen.
Überfällige Bahnhofsrenovierungen etwa in Essen und Dortmund wurden endlich angegangen, es gab bedeutende Museumsbauten in Dortmund, Hagen, Duisburg und Essen. So bekam die Region mehrere große Besucherzentren für ihre Touristen. Vor allem die Welterbestätte Zollverein in Essen, ehemals eine Kohlezeche, hat sich zu einem internationalen Anziehungspunkt entwickelt.
„Der Titel hat dem Ruhrgebiet als Ziel für Kultur- und Städtetouristen einen deutlichen Schub gegeben. Davon profitieren wir bis heute“, sagt Regionaldirektor Garrelt Duin der dpa. Das zeige sich an den Besucherzahlen: 2010 gab es in der Region 6,5 Millionen Übernachtungen, 2023 waren es 8,8 Millionen.
Doch ein großer Schatten liegt bis heute über dem sonst so fröhlichen Kulturhauptstadtjahr: Die Loveparade-Katastrophe. Bei dem Techno-Fest kam es im Juli 2010 in Duisburg zu einer Massenpanik. 21 Menschen starben und rund 500 verletzt wurden. (Von Marie-Helen Frech, Sabrina Szameitat, Rolf Schraa und Andreas Hummel, dpa)