Hans Ulrich Obrist

„Menschen zusammenbringen ist ein zentraler Aspekt meiner Arbeit“

In seiner Kolumne „Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?“ befragt Christoph Amend jeden Monat den Kurator Hans Ulrich Obrist nach seinen Entdeckungen. Diesmal geht es um Kunst in den Alpen und Atelierbesuche in Wien

Von Christoph Amend
07.02.2025
/ Erschienen in Weltkunst Nr. 238

Was haben Sie gesehen, Herr Obrist?

Wien. Anfang des Jahres war ich wie immer in den Schweizer Bergen und habe geschrieben…

…wieder in Sils?

Dort war ich auch, ja, ein bisschen in Zürich und außerhalb, am Greifensee. Und dann bin ich mit dem Zug nach Wien, nach München und nach Davos gefahren. Die kürzeste Reise war von Davos dann nach Zuoz, wo ich zu den Engadin Art Talks (EAT) ging, eine Initiative von Cristina Bechtler, kuratiert von Koyo Kouoh, Daniel Baumann, Philip Ursprung und mir. Dieses Jahr zum ersten Mal an zwei Orten in Zuoz und St. Moritz…

Alvaro Barrington
Alvaro Barrington bei den Engadin Art Talks 2025. © Foto: Saskja Rosset

Das wird ja eine echte Alpen-Kolumne!

Ja, genau! Bei EAT haben wir uns mit dem Thema FORM & impact beschäftigt. Am Samstag und Sonntag in Zouz gab es ein breites Speaker-Programm. Holly Herndon und Mat Dryhurst hielten eine Präsentation über ihre Arbeit, Susan Hefuna sprach mit mir über ihr Werk und ich habe mit Norman Foster und Regula Curti gesprochen. Alvaro Barrington hat nicht nur mit mir ein Gespräch gemacht, sondern hat in einer kleinen Kapelle auch eine Ausstellung, eine Hommage an Tina Turner, die letztes Jahr gestorben ist und ja lange in der Schweiz gelebt hat. So hat er mit dem Musiker Andrew Hale, dem Keyboarder von Sade, zusammengearbeitet. Andrew Hale hat die Tina Turner-Stücke auf dem Keyboard gespielt, und Alvaro Barrington hat in der Kapelle eine malerische und skulpturale Installation gemacht. Am Sonntag gab es ein Satellitenevent in St. Moritz mit LUMA Arles. Maja Hoffmann, Theaster Gates, Vassilis Oikonomopoulos und Stefanie Hessler, der Direktorin des Swiss Institute, und mir. Ich habe die Künstlerin Uman interviewt, die in New York lebt und gerade eine Ausstellung bei Hauser & Wirth in Zürich hat. In München war ich beim DLD…

Alvaro Barrington
Installation von Alvaro Barrington in einer Kapelle in Zouz. © Foto: Saskja Rosset

Der Digital-Life-Design-Konferenz, die jedes Jahr vor dem Weltwirtschaftsgipfel in Davos (WEF) stattfindet.

Dort habe ich im Kulturprogramm des WEF Gespräche mit Sougwen Chung geführt, der Künstlerin, die auch mit Robotern arbeitet, und mit Riken Yamamoto, dem Architekten und Pritzker-Preisträger, der außerdem gerade den Crystal Award des WEF erhalten hat und der sich seit den 1960er Jahren mit Gemeinschaften beschäftigt, und wie sie miteinander wohnen können. Seine Arbeit ist eine Kritik an der modernen Architektur, die sich auf die Kernfamilien konzentriert, die dann nebeneinanderher wohnen, ohne sich zu begegnen. Dasselbe gilt auch für Büros, Firmen sitzen nebeneinander und reden nicht miteinander. Im gesamten Werk von Yamamoto geht es um das Gegenteil, um das Zusammensein. Das ist auch ein zentraler Aspekt meiner Arbeit: Menschen zusammenzubringen.

Wen haben Sie beim DLD interviewt?

In München waren es unter anderem Gespräche mit dem Künstler Philippe Parreno und mit Andrea Lissoni, dem Direktor am Haus der Kunst, und mit Danielle Brathwaite-Shirley, mit der wir dieses Jahr eine Ausstellung in London machen, und mit Leo Castañeda, dem Videospielregisseur, der eine Arbeit über den Nähkasten seiner Großmutter gemacht hat. Wir haben über Gaming gesprochen, Leserinnen und Leser dieser Kolumne wissen, dass mich das Thema seit langem beschäftigt. Parrenos Ausstellung im Haus der Kunst ist übrigens großartig. 

Warum?

Man wird am Anfang von einer Performerin, einer lebenden Skulptur von Tino Sehgal, gebeten, eine Frage zu stellen, und ein paar Räume weiter beantwortet eine KI diese Frage auf philosophische Art und Weise. Das hat mich gleichermaßen berührt und verstört.

Und dann sind Sie nach Wien.

Da habe ich meine ersten Atelierbesuche in diesem Jahr gemacht. Ich war bei Martha Jungwirth, der 85-jährigen Malerin, hochinteressante Zeichnungen waren zu sehen. Sie arbeitet mit ganz persönlichen, auch körperlichen Erfahrungen abstrakt, sie hat eine unglaubliche Energie – sie wird immer besser! Sie betreibt wirklich Seelenmalerei. Und ich habe Peter Kubelka besucht, der für mich damals an der Städelschule in Frankfurt ein prägender Professor war. Er ist Jahrgang 1934, ein radikaler Filmemacher, Musiker, Redner, eine Legende. Alleine sein Film „Unsere Afrikareise“ von 1966! In Wien war ich auch, weil wir gerade eine Ausstellung über Maria Lassnig für LUMA Arles vorbereiten, über meine Beziehung zu ihr. Ich habe sie als Siebzehnjähriger zum ersten Mal besucht, es gab Apfelstrudel. Unsere Freundschaft hielt bis zu ihrem Tod 2014. Wir haben viel miteinander gemacht. Für eine Ausstellung in Griechenland hat sie die griechischen Götter in Göttinnen verwandelt. Ich habe dutzende Briefe von ihr, herrliche Polemiken gegen die Fotografie. 

Eva Beresin
Während Sara Ostertags Stück „Alte Meisterin“ im Wiener Kosmos-Theater hat die Künstlerin Eva Beresin live auf der Bühne gemalt. © Hanna Fasching

Gegen die Fotografie?

Ja. Ihre These war: Die Malerei kann bis in die Nervenbahnen gehen, die Fotografie nicht. All das werden wir in Arles zeigen. Ich habe auch Arbeiten gesehen, die im Zusammenhang mit einer Theaterinszenierung über Maria Lassnig entstanden sind. Die Regisseurin Sara Ostertag hat im vergangenen Jahr in ihrem Stück „Alte Meisterin“  im Wiener Kosmos-Theater Lassnigs Leben erzählt, und die Künstlerin Eva Beresin hat live auf der Bühne gemalt, auch auf die Kleider der Darstellerinnen, auf Hüte, auf Masken. Jeden Tag hat Eva Beresin außerdem ein neues Bild gemalt, all diese Arbeiten habe ich in einer Ausstellung in der Galerie Charim gesehen, die noch bis Anfang März läuft. Dann ging es weiter ins Literaturmuseum, dort war eine große Retrospektive der Jahrhundertdichterin Friederike Mayröcker zu sehen. Maria Lassnig hat mir einst gesagt, wenn sie nicht mehr da sei, solle ich doch ihre gute Freundin Friederike Mayröcker besuchen, wenn ich nach Wien komme. Das habe ich dann auch gemacht, bis zu ihrem Tod 2021. Im Museum war ihre legendäre Schreibwohnung nachgebaut, mit all den Körben, gefüllt mit Zetteln, Büchern, Briefen, den riesigen Stapeln, die überall herumstanden. Die Ausstellung kommt bald nach Zürich. 

Und wofür interessieren Sie sich derzeit außerhalb der Kunst?

Ich lese wieder Friederike Mayröcker, den Band mit ihren letzten Gedichten, der gerade in Suhrkamp Verlag erschienen ist.

Hans Ulrich Obrist
Hans Ulrich Obrist und Christoph Amend beim Videocall. © Christoph Amend

Service

Engadin Art Talks

Hier geht es zu den Videos der diesjährigen Engadin Art Taks.

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