Per Du mit Duchamp

„Musik schreiben: Duchamp studieren!“

Dass der Erfinder des Readymades auch ein Jahrhundert später noch die Kunstwelt beeinflusst, zeigt Thomas Girst in seiner Kolumne. In der zwölften und letzten Folge widmet er sich Duchamps Bedeutung für die zeitgenössische Musik

Von Thomas Girst
25.04.2025

Weniger als sieben Monate vor seinem Tod steht Marcel Duchamp auf der Bühne des Buffalo State College in Upstate New York. Es ist der 10. März 1968. Schon Ende des Monats wird er Amerika für Europa verlassen, wo er nach Aufenthalten in London, Monte Carlo, der Schweiz und im spanischen Cadaqués in seiner Wohnung in Neuilly-sure-Seine bei Paris verstirbt. Es ist die Nacht vom 1. auf den 2. Oktober, nach einem Abend mit Frau und Freunden. In Buffalo trägt er einen schwarzen Anzug mit Krawatte, ein Kontrast zu den Performern und ihren hellen, eng anliegenden Bodysuits links und rechts von ihm, deren Hand er hält, während diese sich zum Applaus der Premiere des knapp einstündigen Balletts „Walkaround Time“ verbeugen. Der amerikanische Choreograf und Tänzer Merce Cunningham steht rechts von Duchamp, er hat den Abend inszeniert. Kostüme und Kulisse hat Jasper Johns gestaltet, von 1967 bis 1980 künstlerischer Leiter von Cunninghams Dance Company.

Robert Rauschenberg Merce Cunningham Danc Company
Robert Rauschenberg, „Merce Cunningham Dance Company, Brooklyn Academy of Music“, 1969. © Robert Rauschenberg, VG Bild-Kunst, Bonn, Museum Ludwig, Köln. Foto: Rheinisches Bildarchiv Köln

Die Bühnenelemente, große Rechtecke aus durchsichtiger, aufblasbarer Plastikfolie, zeigen sieben in Siebdruck übertragene Motive aus Duchamps „Großem Glas“ mit dem Titel „Die Braut von ihren Junggesellen entblößt, sogar“ (1915–1923). Aluminiumstangen geben den Boxen ihre Form. „Das sind tatsächlich die Originale von 1968, von Jasper Johns höchstpersönlich bemalt“, sagt Achim Hochdörfer, Direktor des Münchner Museum Brandhorst, nicht ohne Stolz. Für die von ihm und Yilmaz Dziewior im April eröffnete Ausstellung „Fünf Freunde: John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Cy Twombly“ (noch bis zum 17. August in München und ab 3. Oktober im Kölner Museum Ludwig zu sehen) präsentiert er im riesigen Raum des Untergeschosses das Bühnenbild von „Walkaround Time“. Bereits 2013 ging mit „Dancing Around the Bride: Cage, Cunningham, Johns, Rauschenberg and Duchamp” eine Ausstellung des Philadelphia Museum und des Londoner Barbican Center der kreativen Kooperation von Choreographie, Musik und Kunst und dem Einfluss Duchamps auf die Folgegeneration nach. Der „Tanz als Readymade“, so beschreibt der Katalog der Yale University Press die Hommage Cunninghams an Duchamp.

Ausstelung Fünf Fruende John Cage Museum Brandhorst
Ausstellungsansicht aus dem Museum Brandhorst in München: „Fünf Freunde. John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Cy Twombly“. © Foto: Haydar Koyupinar, Bayerische Staatsgemäldesammlungen, Museum Brandhorst, München

Auch der Avantgardemusiker John Cage sah seine kompositorische Arbeit von Duchamp geprägt: „Eine Möglichkeit, Musik zu schreiben: Duchamp studieren!“ Cage, der Duchamp auf Distanz bereits Jahrzehnte bewunderte, näherte sich diesem erst in den 1960er-Jahren über das Schachspiel. Wenn Duchamp ihm seine fehlende Ambition zu gewinnen leicht verübelte, so irritierte Cage die kommerzielle Ausrichtung der Edition acht historischer Readymades, die Duchamp 1964 mit dem Mailänder Galeristen Arturo Schwarz zu produzieren begann. Ansonsten waren die beiden ein Herz und eine Seele. Oder „great buddies“, wie Duchamp das in einem Interview kundtat, ganz offensichtlich auf gleicher Wellenlänge: „Man kann Sehen ansehen, aber man kann Hören nicht hören,“ so Duchamp. „Alles, was man sieht – das heißt, jedes Objekt und der Prozess des Sehens – ist ein Duchamp“, so Cage.

Duchamp selbst wuchs in einer musikalischen Familie auf, viele Zeichnungen und Gemälde zeigen seine Geschwister am Klavier oder beim Geigenspiel. Er war mit dem Komponisten Edgar Varèse befreundet und arbeitete in den 1920er Jahren gemeinsam mit Francis Picabia und Erik Satie an einem Ballett und einem Avantgardefilm. Was seinen als bildender Künstler ganz ehrlich gesagt aber doch recht überraschenden Einfluss auf die Musik anbelangt, das verdankt er indes vor allem einer einzigen Arbeit, „Erratum Musical“ (1913; eine spätere Version befand sich in der Sammlung von John Cage). Die Zufallskomposition für drei Stimmen, schuf er mit Mitte zwanzig gemeinsam mit seinen Schwester Yvonne und Magdeleine. Auf einem doppelten Notenblatt schrieb er jeweils 25 beliebig aus einem Hut gezogene Musiknoten nieder, die die Geschwister willkürlich den 25 Silben des Wörterbucheintrags für „imprimer“ (drucken) zuordneten. Schon 1920 inspirierte das den französischen Schriftsteller Georges Ribemont-Dessaignes zu einer Dada Performance in Paris.

Auch hundert Jahre später bezieht sich Hip-Hop-Künstler DJ Spooky in seinen „Erratum Errata“, Soundfiles mit Software aus Glitches und Zufallsgeräuschen, auf „Erratum Musical“ und benennt Duchamp als zentrale Inspiration für sein Schaffen. Er ist mitnichten der Einzige. Der Komponist und Künstler Christian Marclay, Gewinner des Goldenen Löwen der 54. Venedig-Biennale, begann 1980 mit einer Zweimannband, die er frei nach Duchamp „The Bachelors, even” taufte. Seither nehmen seine Werke immer wieder Bezug auf den Ur-Avantgardisten: „Duchamps Erfindung des Readymades ist, was der DJ heute macht: Er nimmt die Musik von jemandem und remixt sie.“ Bryan Ferry, David Bowie, Björk, Beck und Michael Stipe von R.E.M. haben sich alle in ihrem Tun auf Duchamp berufen. Genau so wie die New Wave Band XTC, Brian Eno und David Byrne, FSK, die Westberliner Genialen Dilettanten, die Hamburger Band Palais Schaumburg.

Merce Cunningham
Merce Cunningham in Changeling, 1957, fotografert von Richard Rutledge. © Courtesy of the Merce Cunningham Trust and the Jerome Robbins Dance Division, The New York Public Library

Aber noch einmal zurück zum März 1968. Keine Woche vor seinem Auftritt in Buffalo spielen Duchamp und dessen Frau Teeny mit John Cage in Toronto auf der Bühne des Ryerson Theatre Schach. Die Felder des Brettes sind verkabelt und geben elektrisch amplifizierte Geräusche von sich. Die knapp fünfstündige Performance „Reunion“, inklusive anwesenden Musikern und Komponisten sowie Fernsehgeräten, die die Soundscape in abstrakten oszilloskopischen Bildern darstellen, wird von zwei Zeitungen in identischem Tenor als „unendlich langweilig“ und als „schrecklich langweilig“ beschrieben. Selbst Duchamp nickt ein, als Cage sich bis tief in die Nacht gegen Teeny behaupten kann. „Ich liebe ihn und er hat mein Leben mehr verändert als jeder andere Künstler“. So Cage über deren Mann.

Und wie erinnert sich Merce Cunningham an Duchamp, an einem kalten Winterabend in Buffalo? „Er kam mit leuchtenden Augen und erhobenem Kopf auf die Bühne, ohne den Blick auf die Stufen zu richten. Er ging in die Mitte und lächelte, als würde er die Gäste begrüßen. Auf ihn war immer Verlass.“ Umgekehrt ist bis heute auf die Vielzahl all jener Verlass, deren Werk Duchamp prägt. Nach dessen Tod im Oktober 1968 schuf John Cage seine erste visuelle Arbeit, „Not Wanting to Say Anything About Marcel“ (1969). Der Titel greift Jasper Johns‘ Antwort auf, als dieser gebeten wurde, sich in Memoriam über Duchamp zu äußern: „Ich will über Duchamp nichts sagen.“ Das Schweigen des Mentors wurde zum Mantra, er lebt in deren Werken mehr noch als in ihren Worten fort. 

Hier geht es zu Folge 11 von „Per Du mit Duchamp“.

Service

AUSSTELLUNG

„Fünf Freunde: John Cage, Merce Cunningham, Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Cy Twombly“

Museum Brandhorst, München

bis 17. August 2025

museum-brandhorst.de

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