Ein Spaziergang durch die Altstadt

Wir beginnen den Tag in St. Bavo, schauen uns die ab 1425 errichtete Lakenhal an und lassen zwischendurch Gents städtebauliches Wahrzei­chen auf uns wirken

Das Gesicht des Lamms sorgte weltweit für Kommentare in den sozialen Medien, als die Restaurierung des Genter Altars voranschritt und die ersten Bilder des gereinigten göttlichen Tieres kursierten. Vorher war das Antlitz weich und ty­pisch schafsmäßig, jetzt trägt das Lamm, dessen Blut als Opfer für die Sünden der Menschheit in einen goldenen Kelch fließt, scharfe, fast menschlich anmutende Züge. Die achtjährige Restaurierung, deren erster Teil Anfang 2020 abgeschlossen wurde, brachte viele solcher Überra­schungen zutage. Alles erscheint jetzt klarer auf den 24 Tafeln des Monumental­altars von Hubert und Jan van Eyck, der Stil ist härter, fast kristallin, die Farben leuchten mit ausdrucksvolleren Kontrasten auf.

Jan van Eyck, der den Altar 1432 vollendete, reizte erstmals die Technik der Ölmalerei voll aus und erzielte durch die Schichtung von Lasuren einen transparenten Farbschmelz. Er brachte die Gewänder zum Knistern, legte Räume in neuartiger Tiefenperspektive an oder ließ Landschaften in luftiger Ferne verschwimmen. Was bleibt, sind die Rätsel um Jans Bruder Hubert, der auf einer Rahmeninschrift als erster Urheber genannt wird. Man weiß von ihm nur, dass er 1426 in Gent starb, aber ein eigenes Œuvre konnte ihm nie überzeugend zugeschrieben werden. Ebenso unklar sind die Anteile der beiden Brüder am Altar.

Gent Kathedrale Genter Altar
Der Genter Altar in der Mittelkapelle des Chorumgangs von St. Bavo. © www.artinflanders.be, Foto: Cedric Verhelst

Vor dem Genter Altar in St. Bavo

Gent ist zu Recht sehr stolz auf Jan van Eyck, der die europäische Malerei zwischen 1420/25 und seinem Tod 1441 mit seinem lebens­echten Realismus neu erfunden hat. Grund genug, den Aufenthalt in der St.-Bavo-Kathedrale vor dem Genter Altar zu beginnen, dem epochalen Hauptwerk van Eycks. Nach fünfjährigen Planungs- und Bauarbeiten zog der Altar 2021 aus der beengten und ungünstig beleuchteten Villa-Kapelle am Westende der Kirche in die Mittelkapelle des Chorumgangs. In einer gewaltigen, sechs Meter hohen Klimavitrine und unter perfekter Lichtregie kommt das Monumentalwerk endlich angemessen zur Geltung. Doch die gotische Bischofskirche hat noch mehr zu bieten, etwa die drama­tisch verschlungene „Bekehrung des heiligen Bavo“ von Rubens. „Das ist das Schönste, was ich je in meinem Leben gemacht habe“, schrieb der Maler 1614 darüber.

Das S.M.A.K.besitzt Werke des belgischen Visionärs Panama­renko, darunter das Buchobjekt „Toymodel of Space“, 1993. © Dirk Pauwels
Das S.M.A.K.besitzt Werke des belgischen Visionärs Panama­renko, darunter das Buchobjekt „Toymodel of Space“, 1993. © Dirk Pauwels

Lakenhal

Draußen lassen wir erst einmal Gents städtebauliches Wahrzei­chen auf uns wirken: den Drei­klang der Türme von St. Bavo, St. Nikolaus und dem gewalti­gen Belfried. Letzterer war Zei­chen der Selbstverwaltung der Stadt, wofür die Bürger im Mit­telalter immer wieder erbittert mit den Grafen von Flandern und den Burgunderherzögen kämpften. Gleich daneben besu­chen wir die ab 1425 errichtete Lakenhal, die Tuchhalle, wo die Stoffe gehandelt wurden. Goti­sche Speicher für den Warenver­kehr über Leie und Schelde, prachtvolle Renaissancefassa­den: Die ganze Innenstadt zeugt vom einstigen Reichtum der Stadt, die im 15. Jahrhundert 64.000 Einwohner hatte, über­troffen nur von Paris.

Brasserie Du Progres, Fleischerhalle und Mémé Gusta

Nach dem Lunch in der Brasserie Du Progres am Korenmarkt spazieren wir für den Rest des Nachmittags durch die Altstadt. An vielen Ecken scheint die Zeit stehen geblie­ben zu sein, und doch ist die Stadt kein Museum, sondern, quirlig, jung und zeitgenössisch – von den 260.000 Einwohnern sind 70.000 Studenten. In den alten Gemäuern trifft man neben gemütlichen Lokalen oder eleganten Chocolaterien (zu empfehlen: Van Hoorebeke) auf exzentrische Modeateliers wie Café Costume am Hoog­poort, während sich gleich um die Ecke in der Werregaren­straat die Graffiti­-Künstler nach Belieben ausleben können. Kuli­narische Produkte Ostflanderns kann man in der mittelalterli­chen Fleischerhalle probieren und erwerben. Von dort ist es nicht weit zum Restaurant Mémé Gusta, das belgische Küche in einem sympathisch modernen Ambiente serviert.

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