Mit der architektonisch besonders reizvollen Nikolauskirche beginnt unser dritter Tag in Gent. Der Anblick der Fassade des Rathauses, ein steinernen Teppich aus Ornamenten der Brabanter Spätgotik, rundet die Kunstreise ab
ShareHeute beginnen wir mit der architektonisch besonders reizvollen Nikolauskirche, ein Beispiel für die beginnde Gotik in Nordfrankreich und Flandern, die „Scheldegotik“ des frühen 13. Jahrhunderts. Charakteristisch sind die Rundpfeiler im Inneren, der gewaltige Vierungsturm und die Ecktürmchen an der Westfassade und am Querhaus. Hinter dem Altarhaus der Sint-Niklaaskerk ist die Stadshal einen Besuch wert. Der offene, 2012 errichtete Stadtpavillon, eigenwilliger Entwurf eines Genter Architekturbüros, ist mit seinen lang gezogenen Spitzdächern halb rustikal, halb modernistisch – das so geschlossen erhaltene Stadtbild kann diesen Kontrapunkt gut vertragen.
Gleich nebenan hängt die große Stadtglocke von 1659 in einer Betonkonstruktion, auch sie eine willkommene zeitgenössische Zutat. Dort sollte man auf ein nicht sehr großes Wandbild achten: Michaël Borremans, Gents Malerstar von heute, hat „De Maagd“ seiner Heimatstadt geschenkt, eine junge Frau, der Lichtstrahlen aus den Augen schießen – Erinnerungen an alt-flämische Heiligendarstellungen sind sicherlich kein Zufall.
In der Altstadt liegt alles so nahe beieinander, dass es nur wenige Schritte bis zum Rathaus sind. Die Fassade des ersten Bauabschnitts (ab 1518) ist von einem steinernen Teppich aus Ornamenten der Brabanter Spätgotik überzogen. Doch als Karl V. 1540 die Stadt mit desaströsen wirtschaftlichen Sanktionen belegte, war es mit dem Prestigebau der Bürger vorerst vorbei. Erst zwanzig Jahre später konnten sie die Bauarbeiten wieder aufnehmen, diesmal in den antikischen Formen der italienischen Renaissance. Weiter geht es mit der Architekturgeschichte. Der Gravensteen, die Trutzburg der Grafen von Flandern, reicht zurück in die Karolingerzeit, in seiner heutigen Form ist noch viel von der romanischen Anlage des 12. Jahrhunderts erhalten.
Spaziert man durch die mittelalterlich inszenierten Räume, kann man sich kaum vorstellen, dass hier im 19. Jahrhundert eine Baumwollspinnerei ansässig war. Unsere Pause machen wir im Veggie-Bistro Tasty World. Danach vertiefen wir das zweite wichtige Kapitel der Stadtgeschichte nach der Blütezeit im Mittelalter: die industrielle Revolution. In einer ehemaligen Baumwollspinnerei ist das Industriemuseum angesiedelt. Es führt mit historischen Maschinen und spannend aufbereiteten Präsentationen durch die Zeit, als Gent zum Zentrum der modernen Textilfabrikation aufstieg und bald als „Manchester des europäischen Kontinents“ galt. Den Anstoß gab der Unternehmer Lieven Bauwens, der im Jahr 1800 eine Spinnmaschine aus England schmuggelte; die „Mule Jenny“ ist bis heute im Museum zu sehen.
Wenn wir Glück haben, erwischen wir einen der seltenen Öffnungstage der privaten Herbert Foundation. In einem Industriebau am Stadtrand zeigen Annick und Anton Herbert in wechselnder Auswahl ihre Sammlung konzeptueller, minimalistischer und kritischer Kunst, die sie seit 1973 aufgebauthaben. Sollte es mit dem Besuch nicht klappen, nutzen wir den gut gemachten Street-Art-Stadtplan (erhältlich in der Touristeninformation) und laufen oder radeln einige der Wandbilder ab. Gent ist stolz auf seine Street-Art und unternimmt einiges, um die Szene zu unterstützen.
Zum Abschluss steuern wir den Vrijdagmarkt an, wo sich einst der Tuchhandel und viele historische Ereignisse abspielten. Das urige Bierlokal De Dulle Griet bietet mehr als 500 Sorten an, ohne Beratung kommt man da kaum zurecht. Für den Abend ist ein Tisch im Pakhuis reserviert. In einer Belle-Époque-Lagerhalle wird ein üppiges Angebot an Fisch, Austern und Meeresfrüchten zelebriert. Schließlich hat Gent, obgleich 36 Kilometer vom Meer entfernt, einen Hochseehafen. Auch dies eine Facette der kleinen, aber weltläufigen Stadt.