Am ersten Tag streifen wir durch das Unesco-Welterbe der Lübecker Altstadt und entdecken zeitgenössische Kunst in der Kathedralkirche St. Marien
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Das Holstentor ist das Wahrzeichen von Lübeck und unser Start. Feldseitig zeigt es sich wehrhaft, stadtseitig repräsentativ. In der Blütezeit baute sich die Hansestadt ihre Ikone im Kleid der Spätrenaissance. Glanz und Glorie für das mächtige Bündnis der Hanse, dem bis zu 200 Städte angehörten und deren Kopf Lübeck ein halbes Jahrtausend war.
Jenseits der Holstenbrücke liegt die Altstadt, die vom Fluss Trave zur Insel geformt wird. Auf dem Areal von nur zwei Quadratkilometern feiert Lübeck das Mittelalter, die Backsteingotik und den Hansestolz. Historische Kirchen und Giebelhäuser, die im Zweiten Weltkrieg brannten, wurden rekonstruiert, restauriert und ins Unesco-Welterbe aufgenommen. Viel Platz für die Moderne ist in dem fast geschlossenen Ensemble nicht und auch nicht gewollt. Hinter den geschützten Fassaden überrascht aber manchenorts zeitgenössische Kunst.
In der Großen Petersgrube bewegen wir uns auf gepflegtem Kopfsteinpflaster. Gotische, barocke und klassizistische giebel- und traufständige Häuser inszenieren sich wie für einen „Buddenbrooks“-Film. Die Welt der Kaufleute in Gehrock und Zylinder erwacht. Neben dem imposanten Patrizierpalais leisteten sich die Bürger im 13./14. Jahrhundert fünf Großkirchen, die in Dimension und Prachtentfaltung ihren Schwestern im Süden nicht nachstehen. Eine sehen wir vor uns: die Petrikirche. 1942 zerstört, wurde sie 1987 als Kulturhalle wiederhergestellt. In der weißen Leere bleibt der Blick nur am himmelstrebenden Pfeilerwald haften. Dahinter in der Apsis entdecken wir das eher zierliche „Bretterkreuz“ von Arnulf Rainer. Im Rippengewölbe leuchtet das Neon-„Jetzt“-Kreuz der Künstlerin Hanna Jäger, das wie ein Schlussstein alles zusammenhält.
Mittags gehen wir ins klassische Café Niederegger von 1806. Denn außer Marzipantorte fabriziert es schmackhafte Traditionsgerichte wie Labskaus.
In den schwarz glasierten Ziegeln des Rathauses am Markt spiegelt sich ein Jahrhundertwerk mit Baustilen von der Gotik bis zur Renaissance. Das Lange Haus von 1298 schmückt sich mit einer Wappenreihe über Fenstern und Arkaden. Filigrane Türmchen, Fenster und Windlöcher dekorieren die Schauwand des Neuen Gemachs von 1435 wie Brüsseler Spitze. Die weißgraue Renaissancelaube wurde 1572 der backsteinernen Südfassade vorgesetzt, die nun hinter ihr in düsterer Größe aufsteigt.
Auf der Seite gegenüber erhebt sich der städtische Aufreger, ein Kaufhaus in futuristischer Diktion von 2005. Der verglaste Baukörper, der sich in acht Joche gliedert, scheint den Übergang von der Romanik zur Gotik zu zitieren. Aluminiumschalen schließen das Dach zu einem markanten Profil ab. Verantwortlich für den gewagten Entwurf ist das Düsseldorfer Büro Ingenhoven Overdiek und Partner.
Über uns ragen schon die beiden Spitztürme von St. Marien empor. Auf der Höhe ihrer Macht finanzierten die Bürger das Gotteshaus im Wettstreit mit dem bischöflichen Dom. Die Formensprache der westeuropäischen Kathedralkirchen wurde erstmals im Ostseeraum ab 1265 in Backstein übersetzt; die Marienkirche mit ihrem fast 40 Meter hohen Gewölbe gilt als Mutter der Backsteingotik im Ostseeraum.
Zu den Schätzen im Inneren gehören die mittelalterliche Ausmalung, die neunzehn prächtigen Kapellen der Lübecker Elite und die Totentanzkapelle. Der Lübecker Maler und Bildhauer Bernt Notke schuf den berühmten Totentanz 1463 für den Beichtraum. An den verlorenen Bilderzyklus mit einem Reigen aus Toten und Lebenden vor der Lübecker Stadtkulisse erinnern moderne Interpretationen wie die beiden hohen Glasfenster des Grafikers Alfred Mahlau von 1956 sowie das farbenprächtige Tympanonfenster des Künstlers Markus Lüpertz von 2002. Im südlichen Chorumgang kommen wir zu Günther Ueckers „Verletzungen – Verbindungen. Vierzehn gebrochene Kreuze“, eine Installation mit Gegenwartsbezug von 2000: beklemmende, in Tuch gewickelte Nagelkreuze, die den Kreuzweg und die Wunden des Zweiten Weltkrieges symbolisieren.
Beim Umrunden der Marienkirche scheint die weiße Fassade des Buddenbrookhauses auf. Das Wohnhaus von Thomas Manns Großeltern ist durch seine Familiensaga „Buddenbrooks“ mit dem Fluidum der hansischen Kaufmannschaft literarisch eng verknüpft. Wegen des Umbaus bis etwa 2027 geschlossen, gastiert eine Interimsschau im Museum Behnhaus Drägerhaus.
Richtung Trave liegt das Gründungsviertel, ein Areal, auf dem nach historischen Vorbildern gerade ein neues Wohnquartier entstanden ist. Wir checken im The Layhead ein, einem sehr persönlich geführten Bed & Breakfast. Abends geht es in die Schiffergesellschaft, wo seit Hunderten von Jahren schon Kapitäne, Seeleute und Bürger bürgerlich speisen.
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