Zwischen Dogenpalast und surrealen Welten

Wir besuchen den Dogenpalast am Markusplatz und gelangen über den Campo Santa Margherita zur Peggy Guggenheim Collection, wo passend zur Kunstbiennale der Surrealismus gefeiert wird

1. Tag

Wir beginnen unseren Besuch im „schönsten Wohnzimmer der Welt“, dem Markusplatz. In den frühen Morgenstunden ist es hier menschenleer und man kann beobachten, wie die Sonne langsam die Mosaiken am Markusdom zum Funkeln bringt. Auf der Piazzetta vor dem Dogenpalast, zwischen den beiden Säulen von San Marco und San Tòdaro, schaut man auf den bacino, das Becken, in dem Canal Grande und Giudecca-Kanal zusammenfließen. Die morgendliche Stille wird erst von Straßenkehrern durchbrochen, dann von Fotografen mit Hochzeitspaaren, die vor dieser atemberaubenden Kulisse posieren. Für die Frühaufsteher bietet der Dogenpalast, in dem bis Ende Oktober 2022 Anselm Kiefer in der riesigen „Sala dello Scrutigno“ mit über 100 Leinwänden die venezianische und Weltgeschichte erzählt, Exklusivbesichtigungen zwischen 8 und 9 Uhr an. Aufgrund der postpandemisch wieder steigenden Besucherzahlen lohnt sich dieser Aufwand, der es ermöglicht, die In situ-Installation von Kiefer in Ruhe zu studieren.

Anselm Kiefer Dogenpalast
Bis zum 29. Oktober zeigt die Ausstellung „Questi scritti, quando veranno bruciati, daranno finalmente un po’ di luce“ die eigens für den Palazzo Ducale in den Jahren 2020 und 2021 angefertigten Gemälde Anselm Kiefers in der räumlichen und prachtvollen Umgebung des Sala dello Scrutinio. © Anselm Kiefer, Courtesy Gagosian, Foto: Andrea Avezzù

Oder wir machen es wie die Venezianer und gehen zum Rialto-Markt, der eine Stunde früher öffnet. Von hier aus spazieren wir im Santa Croce-Viertel zum Campo San Giacomo dell‘Orio. Am Campo, der rund um die Jakobus-Kirche liegt, ist man mitten im venezianischen Leben. Die Eltern bringen ihre Kinder zur Schule, an der Bar stehen Pensionäre beim caffè auf ein Schwätzchen und der Bäcker trinkt nach der Nachtschicht seinen ombra, einen Einerwein. Wir laufen weiter zum San Polo-Viertel über den weiten Campo San Polo zur nahe gelegenen Frari-Kirche, die um acht zur Frühmesse öffnet. Die Bettelordenskirche bietet einen einzigartigen Überblick über die venezianische Kunstgeschichte und auch wenn Tizians fünfhundertjähriges Altargemälde „Mariä Himmelfahrt“ immer noch vor Ort restauriert wird, lohnt seine unlängst restaurierte Pesaro-Madonna unbedingt einen Besuch.

In unmittelbarer Nähe liegt die Scuola Grande di San Rocco, die um halb zehn öffnet, mit dem großen Versammlungsort der karitativen Laienbruderschaft, die bis heute existiert. Die sechzig großformatigen Gemälde von Jacopo Tintoretto (um 1518/19-1594), die sich über zwei Stockwerke erstrecken, wurden mit einem modernen Beleuchtungssystem ausgestattet, was eine vollkommen neue Seherfahrung ermöglicht. Wir bleiben im Frari-Viertel und gehen mittags an den Campo San Stin, wo die Bar „La Bottiglia“ mit regionalen Weinen, Handcraft-Bier und lokalen Bioprodukten punktet. Am Ufer sitzt man vor der Prunkfassade des Palazzo Zen, eines der letzten Patrizierpaläste, die noch im Besitz von Nachfahren der Gründerfamilie ist, und beobachtet das via vai der Venezianer.

Am frühen Nachmittag werfen wir einen Blick in den Palazzo Vendramin Grimani am Canal Grande, den die französische Privatstiftung Fondazione dell’Albero d‘Oro aufwendig restauriert. Während im Erdgeschoss und im Piano Nobile eine Einzelausstellung des mexikanischen Künstlers Bosco Sodi präsentiert wird (bis 27. November), laufen die Bauarbeiten im zweiten Obergeschoss weiter. Hier sollen in Kürze Ateliers und Wohnungen für das Residenzprogramm der Stiftung eröffnet werden. Für den exzellenten Mix zwischen dem historischen Interieur des Renaissancepalastes und den Wechselausstellungen der Artists in Residence wie Bosco Sodi, garantiert die Venezianerin Daniela Ferretti, die schon im Palazzo Fortuny in Zusammenarbeit mit Axel Vervoort preisgekrönte Ausstellungen kuratiert hat.

Anschließend laufen wir über den Campo Santa Margherita zur Peggy Guggenheim Collection, die neuerdings vermehrt Wechselausstellungen zu Künstlerinnen und Künstlern bietet, die von der exzentrischen Mäzenin gefördert und gesammelt wurden. Hier interessiert uns besonders die Neugestaltung der ständigen Sammlung durch ihre Enkelin Karole Vail, die das Haus seit einigen Jahren leitet. Sie räumt den Werken von Peggys Lebensgefährten Max Ernst und Jackson Pollock mehr Raum ein und misst ihnen somit die Bedeutung bei, die sie im Leben der Amerikanerin innehatten. Vail, die als Kind oft im Palazzo Venier dei Leoni am Canal Grande war, hat außerdem altes Mobiliar neu positioniert, was die vielen Werke von Paul Klee, Wassily Kandinsky, Pablo Picasso, Georges Braques und nicht zuletzt Alexander Calder in einer anderen, privateren Dimension zeigt. Nach der vielbeachteten Ausstellung „Migrating Objects“ haben auch Meisterwerke afrikanischer und ozeanischer Kunst Einzug in die ständige Sammlung gefunden und bieten einen frischen, weniger eurozentrischen Blick auf die Meisterwerke der Moderne. Bis Mitte September wird passend zur Kunstbiennale die Schau „Surrealismus und Magie: Verzauberte Moderne“ gezeigt, die besonders das Schaffen der britisch-mexikanischen Künstlerin Leonora Carrington im Kontext ihrer Beziehung zu Max Ernst beleuchtet (bis 26.9.2022). Ab Mitte Oktober wird die Ausstellung dann im Museum Barberini in Potsdam zu sehen sein. 

In der Dämmerung schließen wir den Tag mit einem Spaziergang zu den Zattere ab, wo wir vom Ufer des Giudecca-Kanals aus den Sonnenuntergang sehen. Die Venezianer setzen sich gerne auf den Holz-Ponton der Bar „Da Nico“, die in jedem Reiseführer wegen des berühmten Giandiuotto, einem Nougateis mit Sahne, vermerkt ist. Dies gibt es auch a passeggio, wenn man noch eine Runde bis zur Spitze von Dorsoduro, der Punta della Dogana laufen möchte, von der man auf das Markusbecken schaut. Einladend ist aber auch der Garten des Palazzo delle Zattere der russischen V-A-C-Kunststiftung, wo die Wahlvenezianerin Jane da Mosto ein Lagunenbiotop gestaltet hat. Hier sitzt man sehr zurückgezogen im Restaurant SudEst1401 mit einer Auswahl orientalischer Speisen.

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