Die Zunahme von Online-Auktionen sorgt auf dem Markt für Fotografie für eine Nivellierung des Preisniveaus, doch der Kanon der Klassiker ist seit Jahren relativ stabil
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13.09.2021
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Erschienen in
Kunst und Auktionen Nr. 14
In den Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Mythos der grenzenlosen Machbarkeit fällt auch die Arbeit der 1975 in New York geborenen Fotografin Taryn Simon. Aus ihrem in mehreren Museen gezeigten Zyklus „An American Index of the Hidden and Unfamiliar“ (2004 – 2007) bot Sotheby’s in New York letzten Oktober die Arbeit „Cryopreservation Unit, Cryonics Institute, Clinton Township, Michigan“ an, einen Farbabzug aus einer Auflage von sieben. Kryostase, das Einfrieren von Lebewesen, um sie zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufzutauen und aufzuwecken, mit dem Ziel, im besten Falle, unter verbesserten wissenschaftlichen, medizinischen und technologischen Bedingungen ein Leben ohne Krankheit und Altern führen zu können, entstammt eigentlich der Science Fiction. Die abgebildete Apparatur enthält, derart konserviert, Mutter und erste Frau von Robert Ettinger, Kryostase-Pionier, Gründer des Instituts und der Immortalist Society sowie Autor der Bücher The Prospect of Immortality und Man into Superhuman. Damals, 2007, lebte er noch, mittlerweile sind er und seine zweite Frau dort ebenfalls konserviert. Die Arbeit konnte die Taxe mit dem Zuschlag bei 12.000 Dollar mehr als verdoppeln. In derselben Auktion konnte auch Valie Export mit zweien ihrer Körperfigurationen von 1972 (Zuschlag 20.000 Dollar) beziehungsweise 1976 (Zuschlag 48.000 Dollar, bei einer Taxe von jeweils 8000 Dollar) – beides mit Farbe überarbeitete Unikate – die Erwartungen weit übertreffen.
Im April feierte Sotheby’s das fünfzigjährige Bestehen seiner Fotoauktionen mit einer Präsentation von 50 „Masterworks“. Highlight nicht nur dieser Auktion, sondern wohl des gesamten Fotomarkts seit Langem, war der Nachlass des britischen Pioniers und Erfinders des Positiv-Negativ-Verfahrens William Henry Fox Talbot, den er seiner Schwester Horatia Gaisford überlassen hatte. Darin befinden sich 128 Salzpapierabzüge, lose und in zwei Alben, ein nicht ganz vollständiges Exemplar des Buchs The Pencil of Nature und eine komplette Ausgabe der „Sun Pictures of Scotland“, außerdem „Horatia’s Sketchbook“ mit Zeichnungen und Aquarellen aus der Botanik. Das Konvolut befand sich bis dato in Familienbesitz. Die Auktion fand online statt, die untere Taxe blieb mit 300.000 Dollar sehr moderat. Der Hammer fiel bei 1,6 Millionen, ein Rekord in vielfacher Hinsicht.
Noch einen Rekord gab es in dieser Auktion: für eine Arbeit von Lee Miller. Eine seltene, nur in zwei Exemplaren bekannte Aktstudie von 1930 aus der Zeit mit Man Ray in Paris verdoppelte mit 400.000 Dollar die Taxe – und überholte damit ihren Lehrmeister, dessen „Violon d’Ingres“ bei Christie’s „nur“ 380.000 Dollar einspielte. Die Konstanz der Klassiker belegte schon letzten Oktober bei Phillips die 1929 entstandene fotografische Reproduktion eines in der Zeit von 1925 bis 1928 entstandenen Fotogramms von Laszlo Moholy-Nagy, die mit 300.000 Dollar ihren Schätzpreis fast vervierfachte.
Es gibt, wie gesehen, vor allem im 19. und auch im frühen 20. Jahrhundert Fotografien, die nur einmal oder in wenigen Exemplaren existieren. Dieses Segment scheint im Handel – im Vergleich zu früheren Jahren – mehr und mehr auszudünnen, Ausnahmen wie das Talbot-Konvolut bestätigen die Regel. Eine weitere Ausnahme tauchte im Dezember bei Grisebach auf, ein anonymer piktorialistischer Bromölumdruck mit Spaziergängerinnen in einer herbstlichen Szenerie, im ungewöhnlichen Format von 91,5 mal 50 Zentimetern. Die Taxe von 20.000 Euro wurde mit dem Zuschlag bei 40.000 Euro verdoppelt.
Vor allem hochinteressante Reisefotografie des 19. Jahrhunderts findet man hierzulande immer bei Bassenge, international in London bei Sotheby’s. Im März wurde dort ein zweiteiliges Panorama von Kabul aus der Zeit um 1880 angeboten, aufgenommen vermutlich von zwei Soldaten der britischen Kolonialmacht. Gräbt man ein bisschen in der Historie nach, so stößt man auf den ersten Britisch-Afghanischen Krieg, dessen Ausgang 1842 bis in Details erstaunliche Parallelen zu aktuellen Ereignissen aufweist. Immerhin wurde mit 3500 Pfund die Schätzung fast verdoppelt. Man kann Fotografien bloß schön finden, aber auch Erkenntnisse durch sie gewinnen. Ob beides oder auch nur eins von beiden mit NFTs auch möglich sein wird, das werden wir sehen.