Kunstmarkt für Fotografie

Zeitenwende für die Fotografie

Viele Rückgänge und Zuschläge weit unter Taxe stehen vereinzelten heftigen Ausschlägen nach oben gegenüber – bis hin zum mit Abstand teuersten jemals verkauften fotografischen Werk

Von Ivo Kranzfelder
12.09.2022
/ Erschienen in Kunst und Auktionen Nr. 14/22

Jüngst ist oft von einer „Zeitenwende“ die Rede, wobei vermutlich unterschiedliche Interessengruppen jeweils etwas anderes darunter verstehen werden. Die Begriffe sind, vor allem im Politsprech und noch viel mehr in der Kriegspropaganda, ständigem Bedeutungswandel unterworfen, wie es einst George Orwell beschrieben hat. Dazu kommen Ereignisse, die bereits vorhandene Tendenzen wie ein Katalysator beschleunigen und damit höchstwahrscheinlich einen beträchtlichen Teil der Menschen, auch sogenannte Entscheider, schlicht überfordern.

Im Bereich der Fotografie ist ein solches sowohl manifestes als auch hochgradig symbolisches Ereignis das Ende der photokina, der Kölner Messe für Foto- und Kameratechnik, verbunden jeweils mit einer Ausstellung, der „Bilderschau“. Ab 1950 traf sich in Köln die internationale Fotoszene – Profis wie Amateure – auf einer, wie Ulrich Pohlmann das im Jahr 1990 beschrieb, „wirtschaftlich orientierten Veranstaltung mit dem Erscheinungsbild eines modernen Jahrmarktes, in dem sich das ästhetische Gebrauchswertversprechen der Ware Fotografie realisierte“. Das jetzige Ende hatte sich schon länger angedeutet und wurde durch die Pandemie endgültig besiegelt. Oliver Freese, Geschäftsführer der Koelnmesse, nannte im „fotomagazin“ die Gründe: „Es wird heute mehr fotografiert als je zuvor, doch auch die Integration der Smartphone-Foto- und -Videografie sowie der Bildkommunikation zum Beispiel via Social Media konnten den Ausfall großer Teile des klassischen Markts nicht kompensieren.“

Diane Arbus Christie's
Ein von Diane Arbus 1962 selbst hergestellter Abzug ihrer berühmten Aufnahme eines kleinen Jungen mit einer Handgranate im New Yorker Central Park erzielte bei Christie's 500.000 Dollar. © Christie’s Images Ltd. 2022

Kurz nach dem letztjährigen Hinweis auf das Phänomen NFT an dieser Stelle tauchte auch schon das erste Exemplar in einer Fotoauktion auf, nämlich am 6. Oktober 2021 bei Christie’s in New York. Einzelaufnahmen der Serie „Twin Flames“ (jeweils Porträts von Zwillingen) des Fotografen Justin Aversano (* 1992) geisterten als NFTs schon seit ihrer Entstehung 2018 durch das Internet und erzielten dort sechsstellige Summen. Das Foto Nr. 83 der Serie als NFT, begleitet von 100 physischen Prints der kompletten Serie als unikate Auflage (zumindest in der Größe von jeweils ca. 40 mal 50 Zentimetern) erzielte als erstes Los der Auktion 900.000 Dollar – das Neunfache der Schätzung. Neben dieser Sensation verblasste der Rest des Angebots, etwa das Los Nummer 2, ein seltener, weil von Diane Arbus 1962 selbst hergestellter Abzug ihrer berühmten Aufnahme eines kleinen Jungen mit einer Handgranate im New Yorker Central Park, dessen taxgerechter Zuschlag bei 500.000 Dollar beachtlich ausfiel. Auffällig beim NFT ist der Umfang des begleitenden Katalogtextes (im Stil eines Storytelling), vor allem im Vergleich zu den zwei dürren Absätzen zu Arbus. Gar nicht zu reden von den exzellenten späteren Doubletten von Robert Frank-Prints, die das Met Museum in derselben Auktion verkaufte, um den eigenen Etat aufzustocken. Einige landeten gut jenseits der 100.000-Dollar-Marke.

Es sah fast so aus, als würde es, wie von einigen Enthusiasten prognostiziert, auf einen Konkurrenzkampf zwischen physisch und nur digital existierenden Objekten hinauslaufen. Dann wurde am 14. Mai dieses Jahres bei Christie’s in New York die Sammlung von Rosalind Gersten Jacobs und Melvin Jacobs versteigert, die in den 1950er-Jahren von William und Noma Copley mit einigen surrealistischen Künstlern bekannt gemacht worden waren, darunter Man Ray und Marcel Duchamp.

Naomi Savage Marcel Duchamp und Man Ray
Naomi Savage, Man Rays Nichte, lichtete 1963 ihren Onkel und dessen Freund Marcel Duchamp ab. Mit 1800 Dollar verdoppelte das Los fast seine Taxe. © Swann Galleries, New York

1962 erwarb das Ehepaar einen Print von Man Rays wohl berühmtestem Bild, „Le violon d’Ingres“, das letztes Jahr aus dem Besitz von Sharon Stone in einer der schon seltenen Reproduktionen 380.000 Dollar brachte. Die jetzt angebotene Version stammt laut Christie’s – offensichtlich untermauert durch eine forensische Untersuchung – aus der Entstehungszeit des Motivs, 1924, ist aber, so heißt es, im Gegensatz zu der bisher als Urfassung geltenden Version aus dem Besitz von André Breton, die damals auch in der Zeitschrift Littérature („Numéro démoralisent“) veröffentlicht wurde, durch in der Dunkelkammer wie ein Fotogramm belichtete Violinschlüssel und anschließend darauf kopierten Akt von Kiki hergestellt worden.

Es handelt sich also offenbar um das zweite bekannte Unikat dieses Motivs in unterschiedlicher Technik. Die Erwartung lag bei 5 Millionen Dollar, Ergebnis war das mit Abstand teuerste jemals verkaufte fotografische Werk mit 10,5 Millionen Dollar. Mit weitem Abstand hat, so könnte man sagen, das Ding gegen das „Unding“ (Vilém Flusser und neuerdings Byung-Chul Han) gewonnen, das Objekt gegen die bloße Information, das NFT. Obwohl ja für alle Fälle der Information noch ein ganzer Berg physischer Objekte beigesellt wurde.

Es gab noch einige weitere Sammlungen, die im letzten Jahr zum Verkauf standen. So etwa im April bei Christie’s in New York die von Richard Gere, in der ein Seestück von Gustave Le Gray aus der Zeit von 1856 bis 1859 mit dem Zuschlag bei 60.000 Dollar die Taxe verdoppelte und ein Art-déco-Akt von František Drtikol in wellenförmiger Kulisse aus dem Jahr 1926 es auf 280.000 Dollar (Taxe 100.000 Dollar) brachte.

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