Dresden feiert Johannes Vermeer mit der bislang größten Ausstellung seiner Werke in Deutschland. Eine hauseigene Sensation ist die „Briefleserin“, die nach ihrer Restaurierung wieder im originalen Zustand ist
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09.09.2021
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 189
Fast hätte ich es mir gekauft, das Innehalten. Es war der fiese November 2020 – Corona-Lockdown, rausgehen schwierig, reisen fast unmöglich. Aber ich hatte nur einen Gedanken: nach Den Haag fahren und dort im Mauritshuis die nur ein paar Monate geltende Berechtigung „Allein mit Vermeer“ buchen. Sie ermöglichte es, zehn Minuten ohne andere Besucher vor Vermeers durch einen Extra-Spot beleuchteter „Ansicht von Delft“ zu verbringen. Die Idee gab es schon lange, doch erst in Corona-Zeiten ist sie ausgeführt worden. Da lag dann leider das Problem. Aus Deutschland einreisend, hätte es in Den Haag zehn Tage in Quarantäne bedurft, bevor ich die exklusiven Vermeer-Minuten im Museum hätte aufsaugen können.
Also habe ich das Ganze abgeblasen. Was davon bleibt, ist trotzdem signifikant. Denn die „zehn Minuten alleine mit“ haben sich nicht auf Rembrandt, Raffael, Botticelli, Leonardo oder sonst wen bezogen. Sondern eben auf Vermeer. In allen überfüllten Museen dieser Welt ist ein bisschen Privatheit ja Gold wert. Doch nur Vermeers geheimnisvoll stille Bilder scheinen, will man von ihnen berührt werden, geradezu ein Innehalten zu fordern. Andere Superstars der Kunstgeschichte erleuchten ganze Museumssäle, teils auch einfach ihres großen Formats wegen. Vermeer hingegen legt eine eher kleinformatige, dafür aber so tiefschichtige Brillanz an den Tag, dass Marcel Proust seine Romanfigur in der „Suche nach der verlorenen Zeit“, den Schriftsteller Bergotte, vor der „Ansicht von Delft“ sterben lässt, mit dem einen Gedanken: Hätte er doch nur so fein formuliert, wie Vermeer gemalt hat!
Es ist viel über diese Passage in Prousts „À la recherche du temps perdu“ diskutiert worden. Bergotte spricht von einem gelben Mauerstück, das gar nicht auf dem Gemälde zu finden ist. Allerdings kann man diese Diskussion abkürzen: Proust hat hier eines erkannt, dass Vermeer nämlich diesen ganz alltäglichen Delfter Mauern eine Tiefenstruktur gibt, als seien sie das Wichtigste der Welt. So genau und liebevoll, dies erkennt Prousts Schriftstellerfigur noch kurz vor dem Tod, muss auch der Literat sein stilistisches Werkzeug dem geringsten Detail widmen – sonst ist die Beschreibung nichts wert.
Doch darf jeder Künstler auch hinzuerfinden, wenn es dazu dient, die Geschichte zu erzählen und in der Fiktion genau zu sein. Das können Figuren und Charaktere, Symbole oder einfach nur gelbe Mauern sein. Denn auch Vermeer, ein scharfer Realist, hat nicht einfach die Wirklichkeit abgepaust, er hat sie gemalt. Das bedeutet, dass er zwar kleine Mauerstrukturen der Delfter Ansicht ausfeilt, aber beim Maßstab trickst: Der Turm der Nieuwe Kerk, in der Bildmitte von Sonnenlicht beschienen, ist bei ihm größer als der Turm der Oude Kerk auf der linken Bildhälfte, obgleich sie aus der eingenommenen Perspektive fast gleich groß erscheinen müssten. Zudem hat er wohl die Tore im Vordergrund verbreitert und die Brücke dazwischen flacher dargestellt, was seiner horizontalen Komposition entgegenkommt. Noch wichtiger: Um das Preziöse der Ansicht zu verstärken, spannt er einen wolkigen Himmel darüber, den es so in der Natur kaum geben kann.
In der sogenannten Wirklichkeit erzeugen solche Maßstabsverschiebungen Unruhe oder gar Entsetzen. Im Bild sind sie einfach nur stimmig. Erst die phänomenal großen Wolken machen aus der Stadtansicht ein vollendetes Kunstwerk. Und wer Vermeer anschaut oder Proust liest, den muss es auch nicht unbedingt kümmern, ob es diese Wolken oder gelben Mauerstücke wirklich gibt. Er sieht sie ja vor sich.
Wenn man, wie im Mauritshuis, schon Privataudienzen mit Vermeer buchen kann, ist er deshalb endgültig der beliebteste der besten Maler? Der Kunstkritiker Wilfried Wiegand hat es 1996 zur größten jemals ausgerichteten Vermeer-Ausstellung in Den Haag bereits festgemacht: Nach Raffael und Rembrandt sei es „neuerdings“ nur noch Vermeer, der als „entrückter Schiedsrichter des Zeitgeistes“ verehrt wird, ein allseits verehrter Künstler, der über die Jahrhunderte hinweg direkt zu uns spricht.
Johannes Vermeer, im Oktober 1632 geboren als Sohn eines kleinbürgerlichen calvinistischen Delfter Gastwirtes und Kunsthändlers, heiratet mit 21 Jahren die besser gestellte katholische Catharina Bolnes und wird in die Malergilde der Stadt Delft aufgenommen. Er stirbt bereits mit 43 Jahren und malt in seinen aktiven zwei Jahrzehnten wohl keine 50 Gemälde, von denen heute 35 als sicher authentisch gelten. Zu Lebzeiten ist er anerkannt und etabliert, aber nicht berühmt, wird dann schnell vergessen und erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wiederentdeckt.
Sein Lebenslauf, über den wir nur wenig wissen, gibt den Ruhm nicht her. Es sind wirklich nur die Gemälde, die Vermeer die Aura des Licht-Großmeisters und des vormodernen Reduzierers barocker Überfülle verliehen haben. Dabei wirken seine Bilder unheimlich fotografisch, und es wurde immer wieder vermutet, er habe die Camera obscura, eine Vorform des Fotoapparates, für seine Kompositionen verwendet.
Dass Vermeer wirklich der Größte ist, also die Rembrandts und Raffaels hinter sich lässt, scheint sich jetzt, bald dreißig Jahre nach Wiegands Feststellung und also auch nach der Erfindung des Smartphones und des Selfies, zu bestätigen. Denn sein „Mädchen mit dem Perlenohrring“, ebenfalls im Mauritshuis, ist nicht nur seit 2003 durch einen Film mit Scarlett Johansson noch weltberühmter geworden. Es bildet zusammen mit der „Mona Lisa“ im Louvre und Botticellis „Venus“ in den Uffizien auch die wohl begehrtesten Selfie-Spots alter Kunst.
Seit Vermeers Neuentdeckung Mitte des 19. Jahrhunderts gab es viele Phasen der Wertschätzung, doch sein Ruhm kulminierte 1995/96 in der bereits erwähnten Schau in Washington und Den Haag. Dort wurden 21 seiner Bilder gezeigt, eine an seinem Gesamtwerk gemessen unglaubliche Zahl (Zeichnungen oder Druckgrafik von ihm gibt es überhaupt nicht). Ist er also vielleicht der Größte, weil es so wenig von ihm gibt? Und weil sein Gesamtwerk dennoch kaum je en bloc anzuschauen ist? Es ist über die halbe Welt verteilt, wobei sich allein zwölf Werke in den USA befinden. Auf dem Markt vorhandene Bilder gibt es gar nicht, immer bleibt es bei der magischen Zahl 35.
Es wird wohl kaum passieren, dass wie vor einigen Jahren bei Leonardo ein gänzlich neuer Vermeer entdeckt wird. Die Bilder sind verteilt, zugeschrieben, durchleuchtet. Und so gehen die echten Neuigkeiten in der Altmeister-Welt seit Jahrzehnten nur noch von klugen Ausstellungen, vor allem aber von Restaurierungen aus. Ein paar Beispiele: der Genter Altar der Brüder van Eyck, Rembrandts „Nachtwache“, Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“ – oder auch das etwas weniger populäre Geniestreich-Gemälde „Die Torwache“ von Vermeers Zeitgenossen Carel Fabritius, dessen weich präzise Malweise viel mit Vermeer zu tun hat (er galt sogar zeitweise als dessen Lehrer). Auf der „Torwache“ tauchte im Hintergrund eine bewaffnete Figur auf, die vermeintlich gemütliche Atmosphäre des Bildes verschob sich ins Bedrohliche.
Die spektakulärste Vermeer-Restaurierung ereignete sich in der Dresdner Gemäldegalerie. Im „Brieflesenden Mädchen am offenen Fenster“, um 1657/59, konkretisiert sich die für uns so klar verständliche Sprache des Malers, sein scheinbar ewig-moderner Blick auf Mensch, Licht, Raum und Alltag. Nun wurde darin ein Bild im Bild entborgen: ein nackter Amor mit aufgestelltem Bogen in seiner Rechten. Das fiktive Gemälde an der Wand des gemalten Raums hat die Wirkung des Werks stark verändert – allein schon in den Proportionen, denn der römische Liebesgott (auch Cupido genannt) ist so groß wie der Oberkörper des lesenden Mädchens.
Spannenderweise ändert die sensationelle Freilegung auch die inhaltliche Bedeutung. Sie rückt den so realistisch beobachteten Charakter des Bildes, ja, des gesamten Schaffens Vermeers in einen anderen Kontext und verstärkt die moralisch-symbolische Ebene, die ohnehin fast jedes seiner Gemälde mitbestimmt. Diese allegorische Kommunikation, im Gegensatz zu seinem Licht oder den Gesichtern der Figuren, ist viel diffuser, seltsamer, fremder, als Vermeer bislang rezipiert wurde. Hat er womöglich doch nicht so prämodern kühn die Zeiten übersprungen, wie man seit Langem glaubt? War es ein Missverständnis, dass man sich immer so barrierefrei in seine Figuren hat hineinsehen können, stammen sie in Wirklichkeit doch aus einer fremden Symbolwelt? Kein Wunder, dass manche eingefleischte Vermeer-Fans die Veränderung der „Briefleserin“ skeptisch betrachten und den Verlust der monochromen Wand des Raums bedauern.
Nach mehrjähriger Arbeit ist das nun fertig restaurierte Bild ab 10. September in der Dresdner Gemäldegalerie erstmals zu erleben und (nach zweimaliger coronabedingter Verschiebung) Anlass einer Ausstellung. Neben den beiden hauseigenen Vermeers, dem „Brieflesenden Mädchen“ und der „Kupplerin“, werden noch weitere acht Werke des Malers aufgeboten, ergänzt durch rund fünfzig Niederländer seiner Zeit, etwa Pieter de Hooch, Gabriel Metsu oder Gerard ter Borch.
Und so präsentiert Dresden die größte Vermeer-Schau, die es in Deutschland je gab. „Johannes Vermeer. Vom Innehalten“ glänzt mit einer erstaunlichen Reihe von Leihgaben. Aus dem Amsterdamer Rijksmuseum kommen die „Briefleserin in Blau“ und die „Straße in Delft“, die Londoner National Gallery steuert die „Virginalspielerin“ bei, das Frankfurter Städel den „Geograf“. Washington lässt die „Frau mit Waage“, die New Yorker Frick Collection „Die unterbrochene Musikstunde“ nach Sachsen reisen. Auch Braunschweig und Berlin waren leihfreudig.
Die Bilder wurden, so verrät es der Dresdner Museumsdirektor Stephan Koja, mit Bedacht angefragt, nämlich um bestimmte Themen und Motive, aber auch Fragen der Restaurierung zu behandeln. Denn auch bei der „Virginalspielerin“ hängt ein schwarz gerahmter Cupido an der Wand; bei der „Frau mit Waage“ ist es ein Jüngstes Gericht, das seit einer Restaurierung wieder besser zur Geltung kommt, da dunkle Farbe den von Vermeer mit Gold akzentuierten Rahmen verdeckt hatte. Wie das alles zusammenhängt, macht die Ausstellung deutlich.