Dresden feiert Johannes Vermeer mit der bislang größten Ausstellung seiner Werke in Deutschland. Eine hauseigene Sensation ist die „Briefleserin“, die nach ihrer Restaurierung wieder im originalen Zustand ist
Von
09.09.2021
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 189
Natürlich ist die 2017 begonnene Restaurierung der „Briefleserin“ ein zentrales Thema der Schau. Sie zeigt, wie man das Bild wieder auf Vermeers Stand gebracht hat: eine De-Restaurierung, bei der ein später hinzugekommener Eingriff rückgängig gemacht wurde, sodass wir das Bild erstmals in der vom Maler geschaffenen Originalkomposition sehen. Der Amor unter der Oberfläche war schon seit einer Röntgenuntersuchung von 1979 bekannt, aber dann stellte man bei der Reinigung des Gemäldes fest, dass die Farbschicht hier anders reagierte als auf den übrigen Partien des Gemäldes. Anders auch als dort, wo man ebenfalls Übermalungen ausmachte, etwa ein rechts unter dem grünen Vorhang verborgenes Weinglas. Dieses ließ Vermeer selbst wieder verschwinden, dagegen muss der Cupido später, wohl erst nach seinem Tod, übermalt worden sein.
Unterstützt von einer internationalen Expertenkommission, beschlossen der Hausherr Koja, die damalige Chefrestauratorin Marlies Giebe und Uta Neidhardt, die Oberkonservatorin für niederländische Malerei, schließlich die Freilegung des Amors. Eine langwierige Fein- und Konzentrationsarbeit, bei der Restaurator Christoph Schölzel mit dem Skalpell nur etwa ein bis zwei Quadratzentimeter pro Tag schaffte. Dabei war die Restaurierung nicht nur für Schölzel, sondern auch im Ganzen eine Geschichte des langen Atems, die vor 42 Jahren mit der Entdeckung des Cupidos begann. Vermeer hatte offenbar eine ähnliche Ausdauer. Wenn man bedenkt, dass er in den tätigen Jahrzehnten seines Lebens so wenig Gemälde vollendete, etwa zweieinhalb im Jahr, dann muss er sehr langsam oder sehr gewissenhaft vorgegangen sein. Zentimeterweise schichtend, tugendhaft tupfend.
Jetzt herrscht also Amor wieder über der jungen Briefleserin. Er steht ihr richtig im Nacken. Und er verschiebt die Bedeutung von Vermeers Gesamtwerk, er ist nämlich auf vier Gemälden, also in mehr als zehn Prozent des zweifellos zugeschriebenen Werks zu sehen. In der Ausstellung sind mit dem Dresdner Bild, der „Virginalspielerin“ und der „Unterbrochenen Musikstunde“ drei davon vertreten. Da das „Brieflesende Mädchen“ als ganz frühes und die „Virginalspielerin“ als eines der spätesten Werke gilt, überwacht der Liebesgott das gesamte Schaffen des Delfter Malers.
Die Locken knabenhaft, das Gesicht freundlich, in der Rechten den Bogen, in der Linken eine Karte erhoben, basiert Vermeers Cupido offenbar auf Otto van Veens grafischer Serie „Amorum Emblemata“ von 1608. Dort kann man auf der Karte in Amors Hand deutlich eine „1“ lesen, die auf die darunter stehende emblematische Weisheit hinweist: „Perfectus amor non est nisi ad unum“ (Vollkommene Liebe gibt es nur für einen). In einer späteren deutschen Übersetzung lautet der Spruch: „Eine alleine / sonst keine (…) Die Liebe kennt nur Eins / und kann nicht weiter zählen (…) Denn was sich teilen muss / kann wohl nicht lang bestehn. Vertrocknet doch ein Fluss / aus dem viel Bäche gehn.“
Spätestens hier versteht man, wie sich die Bedeutung der Dresdner Briefleserin verschiebt – und damit auch ein wenig die des Gesamtwerks. Die „modern“ anmutende Vieldeutigkeit, die in Zeiten des übermalten Cupidos dem lesenden Mädchen inhaltlichen Spielraum gab, war so von Vermeer nicht beabsichtigt. Im Gegenteil, der Cupido beherrscht das Bild, er spielt die Treue-Karte. Dabei deutet sein dominanter Auftritt nicht zwingend auf die tatsächliche Treue der Protagonistin hin, sondern kann auch eine Mahnung sein: Sie sollte treu sein. Und wir, die Betrachter, gefälligst ebenfalls.
Kann man daraus ableiten, dass die Briefleserin und die anderen jungen, vom Cupido bewachten Frauen es nicht immer sind? Dass Vermeers Kunst gar von leichtlebigen Frauen beherrscht wird, die diese Mahnung benötigen? Zu vieles spricht dagegen. Vor allem die Frauenfiguren selbst, die zu innerlich gefestigt für Sinnbilder des Seitensprungs wirken. Diese Innerlichkeit, die ebenso wie das Raum- und Lichtsetting mit der „Briefleserin“ in Vermeers Werk erst beginnt, strahlen auch seine anderen Frauen und Mädchen aus.
Nur in einem Fall hat sich Vermeer in der Tat zwei moralischen Außenseiterinnen gewidmet: im Dresdner Gemälde „Bei der Kupplerin“, seinem ersten Genrebild. Er malte es 1656 mit 24 Jahren, es ist eines von nur drei Gemälden, die er selbst datierte. Zeigen zwei frühere, mythologische Szenen ihn bereits als außergewöhnlichen Maler, beweist die „Kupplerin“ endgültig seine herausragende Stellung. Noch hat er sich nicht völlig dem Alltag genähert – der „Dutch visual culture“, wie die Kunsthistorikerin Svetlana Alpers die realistische Bildwelt als elementares Kommunikationsmedium der holländischen Gesellschaft bezeichnet hat. Noch wabern in Vermeers Künstlerkopf offenbar die großen manieristischen und barocken Vorgänger mit ihren opulenten und theatralischen Figurenensembles, die oft mythologische oder christliche Szenen darstellen.
Aber in der „Kupplerin“ geht es bereits um eine alltägliche, ja vulgäre Szene. Die Puffmutter vermittelt dunkel im Hintergrund, der betrunkene Freier zückt den Taler und befummelt die Prostituierte, die ihre Hand nach dem Geld ausstreckt und lächelt. Und zwar so hold und sanft, als würde man ihr das Jesuskind und nicht einen Sündentaler zeigen. Vermeer gibt dem leichten Mädchen ein liebliches Madonnengesicht, und das Gelb ihres körperbedeckenden Oberteils leuchtet ungerührt.
Der Sinn für die Menschlichkeit der Figur überwiegt jede moralische Verkürzung. Selbst wenn das Gesicht der Frau nur so leuchtet, weil die Münze des Freiers ihr gleich in die Hand fällt. Ein Taler, den Vermeer ziemlich genau in die Bildmitte setzt, aber nur von der Seite zeigt, sodass er wie ein flüchtiger, heller Lichtreflex wirkt. „Vermeer ist eben immer subtiler als alle anderen“, so bringt Stephan Koja diesen Effekt auf den Punkt. Überhaupt ist selbst eine sehr simple persönliche Herangehensweise bei Vermeer nicht möglich, ohne solche und andere Hinweise zu bekommen. Nach den wegweisenden kunst- und sozialhistorischen Forschungen der letzten fünfzig Jahre hat Karl Schütz 2015 eine Vermeer-Monografie mit grundlegender Diskussion des Forschungsstands herausgebracht. Den Dresdner Cupido sucht man hier noch vergeblich als prägendes Bildelement, weil seine monochrome Übermalung nach damaligem Wissen Vermeer selbst zugeschrieben wurde.
Amors Auftritt ist eine Mahnung zur Treue. Das verheißt nicht unbedingt Gutes. Es wirkt eher so, als würde der Götterknabe künftigen Liebesschmerz in das weiche Licht und Unheil in die stillen Zimmer streuen. Schwindet dabei auch das Bild des Zeitenüberwinders Vermeer? Dass er tatsächlich eine Camera obscura verwendet hat, um seine Bilder zu malen, wie angesichts der Akribie seiner Interieurs oft konstatiert wurde, scheint heute unwahrscheinlich. Eher hat er, ganz traditionell, einen Fluchtlinien-Nagel in die Mitte des Bildes gestochen und von dort ausgehend die Verkürzungen mit einer feinen Schnur abgemessen.
Und da nun ein weiterer Cupido als prägendes Element eines berühmten Gemäldes hinzukommt, scheint unser moderner Blick auf den „fotorealistischen“ Menschen- und Alltagsmaler sich tatsächlich als weniger treffend zu erweisen und stattdessen der allegorische, deutlich moralische Anteil der Bilder im Sinne seiner Epoche in den Vordergrund zu rücken. Aber ist Vermeer deswegen ein Moralist, der mit der einen Hand den Zeigefinger hebt und mit der anderen penibel Farbtupfer auf seinen Gemälden verteilt? Seine malerische Brillanz weist nicht in diese Richtung, auch nicht die Zärtlichkeit, mit der er die Welt betrachtet, die Frauen, die Dinge, das Licht. Diese Ebene seiner Kunst spricht eine andere Sprache, für uns sicherlich eine wichtigere als die fast in jedem Bild anwesenden Symbole.
Außerdem unterstützen die allegorischen Bildinhalte das, was Vermeer als Maler so groß macht. Das ist nicht die ihm notorisch unterstellte Prämodernität, schon gar nicht das vorfotografische Element. Es ist sein langer Atem, die Ruhe, das Reflexive – das „Innehalten“, wie es die Dresdner Ausstellung nennt. So in Ruhe gelassen wie bei Vermeer kann man sonst bei keinem anderen Maler schauen. Daher kommt wohl auch die zuweilen fast religiös verklärte Verehrung. Man darf sich also weiterhin und hingebungsvoll in das Mädchen beim Lesen des Liebesbriefs versenken. Und den Cupido einfach nur als Wanddekoration zur Kenntnis nehmen.
„Johannes Vermeer. Vom Innehalten“
Gemäldegalerie Alte Meister, Dresden
10. September bis 2. Januar 2022
Der Katalog ist im Sandstein Verlag erschienen