Die Iranerin Shirin Neshat zählt zu den international wichtigsten Künstlerinnen. In München ist nun ihr jüngstes Werk „Land of Dreams“ zu sehen
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07.12.2021
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Erschienen in
Kunstplaner 2022
Stahltüren öffnen sich. Die junge Frau tritt hinaus, vor ihr die grandiose Wüstenlandschaft New Mexicos. Ein alter Mercedes, sie steigt ein und fährt los. Das ist das, was man auf der linken Seite der Doppelprojektion von Shirin Neshats neuester Arbeit „Land of Dreams“ sieht. Auf der rechten Seite läuft auch ein Video: dieselbe junge Frau, wie sie sich in einem Spiegel beobachtet. Wie ihr Gesicht, weil der Spiegel eine Wasseroberfläche ist, in Bewegung gerät, sich verzerrt, verschwimmt. Schnitt. Die Frau trägt nun einen weißen Kittel, so wie alle anderen in ihrer Forschungseinrichtung. Die ist halb Bibliothek und halb Turbinenfabrik, halb Schule und halb Labor, halb „Squid Game“-Irrgarten in Schwarz-Weiß und halb Strafkolonie.
Shirin Neshat, geboren in der Stadt Qazvin im Iran, als der Iran noch Persien hieß, seit mehr als vierzig Jahren ansässig in den USA, zählt seit Langem zu den bedeutendsten Künstlerinnen der Gegenwart. Und „Land of Dreams“ ist nicht nur eine Videoinstallation. Außer den zwei Filmen gehört dazu noch eine Serie von über einhundert Fotoporträts, mit denen Neshat die Tradition des großen Sozialdokumentaristen Walker Evans aufleben lässt: Die Köpfe füllen das gesamte Format, der Hintergrund ist neutral und wie diese Frauen und Männer einem auf den Bildern entgegenkommen, das ist von enormer Eindringlichkeit.
Die beiden Teile von „Land of Dreams“ (die Arbeit umfasst eigentlich auch noch einen knapp zweistündigen Kinofilm, der in diesem Jahr auf dem Filmfest von Venedig Premiere feierte) werden zusammen mit zwei weiteren Hauptwerken der Künstlerin in der Pinakothek der Moderne in München präsentiert – und die Ausstellung, die bis zum 24. April dauert und den Titel „Shirin Neshat. Living in One Land, Dreaming in Another“ trägt, hat eindeutig das Zeug zu einem der Höhepunkte des Kunstjahres 2022.
Wie nur wenige andere versteht es Shirin Neshat, in ihrer Kunst drängende Fragen der Zeit zu stellen, ohne schnell geschossene Antworten zu geben. Ihre Fotografien besitzen eine verblüffende Prägnanz und Eingängigkeit, ihre Filme und die Choreografien darin üben einen Sog und eine Dynamik aus, die einen ab den ersten Bildern gespannt mitfiebern lassen. Und doch ist nichts daran einfach oder plakativ. Immer existieren inhaltlich mehrere Ebenen und Metaebenen, Zwischentöne und Reflexionsräume, die sich als bald zu wahren Denkpalästen und Gefühlslabyrinthen entwickeln.
Mit der Fotoserie „Women of Allah“ betrat sie Anfang der Neunzigerjahre die Bühne der Kunstwelt und wurde schlagartig international bekannt. Seitdem oszillieren ihre Arbeiten zwischen dem Individuellen und dem Universellen, dem Persönlichen und Allgemeingültigen. Probleme der Identität und Zugehörigkeit, der Psychologie und Verführung, der Formung der Einzelnen und der Gesellschaft, die sie bilden, die Fallhöhen von absoluter Schönheit, grotesker Gewalt und Willkür – das sind nur einige der Themen, die man in Neshats Werken entdecken kann.
Dafür hat sie die ihr gebührende Anerkennung erfahren. Man lud sie zu den wichtigsten Ausstellungen zeitgenössischer Kunst ein, 1999 erhielt sie den Internationalen Preis auf der Biennale von Venedig, nahm drei Jahre später an der documenta in Kassel teil.
2017 wurde sie mit dem japanischen Praemium Imperiale ausgezeichnet, der dem Status nach einem Nobelpreis der Künste nahekommt. Alle großen Museen, die auf sich halten, besitzen Arbeiten von ihr – auch die Pinakothek der Moderne, die gerade „Land of Dreams“ mithilfe der in Wiesbaden und Frankfurt beheimateten Written Art Foundation dauerhaft erwerben konnte, hat mit dem Video „Possessed“ bereits ein Werk von Neshat in ihrer Sammlung.