Shirin Neshat in München

Im Land der Träume

Die Iranerin Shirin Neshat zählt zu den international wichtigsten Künstlerinnen. In München ist nun ihr jüngstes Werk „Land of Dreams“ zu sehen

Von Ulrich Clewing
07.12.2021
/ Erschienen in Kunstplaner 2022

In München werden auch zwei etwas ältere Werkreihen gezeigt, „The Book of Kings“ von 2012 und „The Home of My Eyes“ aus dem Jahr 2015. Dreh- und Angelpunkt der Ausstellung jedoch ist „Land of Dreams“, auch weil die 64-jährige Künstlerin damit Neuland beschritt. „Ich hatte lange Zeit Zweifel, ob ich eine solche Arbeit überhaupt würde machen können. Immerhin handelt sie von der amerikanischen Kultur, und ich dachte, das geht nicht, ich bin doch Iranerin.“ Doch nach und nach gelangte sie zu der Überzeugung, dass es doch funktionieren könne, „weil ich eben auch Amerikanerin bin“. Und was sie noch beizusteuern hatte, war nicht gerade wenig: die Perspektive einer Immigrantin. „Wenn ich versuche, die amerikanische Kultur zu verstehen, dann nicht von einem amerikanischen Standpunkt aus, sondern von meinem eigenen, ganz persönlichen.“

In „Land of Dreams“ bricht Shirin Neshats junges Alter Ego Simin auf zu einer Reise durch New Mexico. Sie klingelt an den Türen Fremder und behauptet, sie sei Kunststudentin, die den Auftrag habe, Menschen in ihren Wohnzimmern zu fotografieren. Der erste Versuch geht schief. Keine Lust, keine Zeit, Tür zu. Beim zweiten hat Simin mehr Erfolg. Und fragt am Ende die Frau, die sie hineingebeten hatte, ob sie ihr wohl noch einen Gefallen erweise. Und ihr von ihrem letzten Traum erzähle. Das tut sie, und dann kommen die Alpträume. Die übergewichtige Mitvierzigerin schildert Simin in dem Weiß-in-Weiß-gehaltenen Kitschparadies, das sie ihr Wohnzimmer nennt, wie „schmutzige kleine Kinder“ in ihr Haus einbrechen und alles zertrümmern. Auch die weißen Katzenfiguren, an denen ihr so viel liegt (es sind mehr als hundert).

Shirin Neshat Pinakothek München
Die bedeutendste iranische Künstlerin der Gegenwart schafft durch die Verbindung von Schrift, gestischem Aus­druck und Formatvariation eine rhythmisch poetische Dichte, mit der sie von universellen menschlichen Erfahrungen erzählt. © Shirin Neshat / Courtesy the artist and Gladstone Gallery and Goodman Gallery, Johannesburg, Cape Town, and London

Auch der Ex-Militär, ein alter Mann um die Siebzig, erinnert sich gut an seinen letzten Traum, denn der war wie der vorletzte, der vorvorletzte, „eigentlich ist es immer derselbe“. Der Mann hat Visionen vom nuklearen Holocaust. Dass sich die Sonne verdunkelt. Es Öl regnet. Blitze am Himmel zu sehen sind, „das Schlimmste sind die ganzen Explosionen“. So geht das weiter. Ein Osteuropäer treibt die Sorge um, dass die Erinnerung an sein Dorf daheim verblasst. Eine Angehörige des Volkes der Navajo sieht sich in einem Kloster und fürchtet, dass sie ihr Kind an die Christen verliert, „obwohl wir hier schon seit Jahrhunderten leben“.

Währenddessen folgt die Kamera auf der rechten Hälfte der Videoprojektion Simin im weißen Kittel in ihrem Forschungslabor. Dort ist sie nur eine von vielen, das einzige Licht ist Neonlicht. Keiner redet ein Wort, bis Simin sich heimlich davonstiehlt, in die Bibliothek geht und einen alten Folianten aus dem Regal nimmt. Sie beginnt zu lesen, reißt anschließend hastig die Seiten heraus – und gerät schließlich vor eine Art Komitee, in dem sich alle auf Farsi unterhalten, der Sprache des heutigen Iran. Das ist der fiktionale Teil von „Land of Dreams“.

Für die Traumerzählungen wählte Neshat dagegen nach groben Kriterien mehr oder weniger zufällig gecastete Menschen aus. „Ich habe darauf geachtet, dass sie aus unterschiedlichen sozialen Schichten und Ethnien stammten“, sagt die Künstlerin beim Zoom-Call in ihrem Atelier in Brooklyn, „aber im Grunde handelte es sich dabei um ,real people‘, die alle die USA als ihre Heimat bezeichnen – anders als bei meinen früheren Fotos und Filmen, für die ich immer mit sorgfältig ausgesuchten Models zusammenarbeitete.“ Durch die Gegenüberstellung von Fiktion und quasidokumentarisch verdichteter Realität gewinnen die beiden Filme im Verbund mit den gut einhundert Porträtfotografien eine überindividuelle -Dimension. Einerseits zählt bei Neshat jeder einzelne Mensch, andererseits scheinen die Ängste von Identitätsverlust, Fremdbestimmung und Zerstörung der gewohnten Lebenswelt die elementare Konstante zu sein, die sie alle miteinander verbindet: Das ist das duale System in Neshats Werk.

Um die Spannung noch zu erhöhen, verwendet Neshat seit den „Women of Allah“ als stets wiederkehrenden Bestandteil der Dramaturgie persische Kalligrafie. Auch das eröffnet ein weitverzweigtes Wegenetz der Anspielungen und Assoziationen. „Kalligrafie dient mir zum einen, um die subjektive Ebene meiner ursprünglichen Herkunft ins Spiel zu bringen“, sagt Neshat, während sie in einem großen, leeren Raum an einem kleinen Schreibtisch vor einem kleinen Computer sitzt. „Im Iran sind es nicht nur Schriftzeichen oder einzelne Wörter, die das öffentliche Erscheinungsbild vom kleinsten Dorf bis zur größten Stadt prägen. Texte, auch lange Texte, sind dort allgegenwärtig und viel präsenter, als es in westlichen Ländern üblich ist.“ Zum anderen ist die iranische Kalligrafie von bezwingender Wohlgestalt – auch wenn man sie nicht entziffern kann.

Diese Grundzüge finden sich auch in den zwei anderen in München gezeigten Werkkomplexen. Im älteren, „The Book of Kings“, nahm Neshat die politischen Ereignisse im Iran während der grünen Revolution 2009 zum Anlass, den Zusammenhang von Macht respektive Machterhaltung und Gewalt und Willkür nachzuzeichnen. Damals gingen in Teheran und anderen iranischen Städten Millionen junge Leute auf die Straße, um gegen die Wiederwahl des Präsidenten Mahmut Ahmadinedschad zu protestieren, dem sie Wahlbetrug vorwarfen. Zehntausende wurden verhaftet, viele davon verschwanden spurlos, ohne dass ihr weiteres Schicksal bekannt geworden wäre. Auch hier wieder bilden Einzelporträts, kunstvolle Kalligrafien und eine übergeordnete Referenz – in dem Fall die historische Darstellung der Geschichte Persiens durch den im 10. Jahrhundert lebenden Dichter Abu I-Qasem-e Ferdowsi – ein Ensemble, das vom Besonderen auf das Allgemeine verweist.

In der zweiten, 2015 entstandenen Arbeit „The Home of My Eyes“ beschäftigte Neshat sich mit Aserbaidschan – und mit dem, was die Bewohner dieses im Westen eher als Nebensache abgetanen Vielvölkerstaates aus der Konkursmasse der Sowjetunion unter dem Begriff Heimat verstehen. Die Ergebnisse dieser künstlerischen Untersuchung offenbaren: Dinge wiederholen, entwickeln und verändern sich, während Shirin Neshat nicht müde wird, uns, die wir staunend und beglückt vor ihren Werken stehen, unsere Gemeinsamkeiten vor Augen zu führen. In „Land of Dreams“ gibt es eine Szene, in der sich im Einzelnen das Ganze abbildet. Es ist die letzte Einstellung der rechten Projektion – man sieht dort Simin, wie sie das Laboratorium verlässt, eine Stahltür öffnet und zu dem Mercedes geht, der draußen auf sie wartet. Es ist dieselbe Szene wie am Anfangdes Videos auf der linken Seite. Es ist alles ein Loop.

Service

AUSSTELLUNG

„Land of Dreams“,

Pinakothek der Moderne, München,

bis 24. April 2022

pinakothek.de

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