Street Photography

Auf der Straße wartet das Leben

Zuvor völlig unbekannt, elektrisiert die amerikanische Fotografin Vivian Maier die Kunstwelt und die Besucher vieler Ausstellungen, seit ihr Werk 2007 in Chicago auftauchte. Die Werkstattgalerie Noack in Berlin zeigt jetzt ihre Bildwelt in allen Facetten. Auch seltene Vintage-Abzüge sind zu sehen – und zu erwerben

Von Sebastian Preuss
30.12.2021

In den Jahren vor ihrem Tod 2009 war sie völlig verarmt und von Obdachlosigkeit bedroht, erhielt aber Unterstützung von einigen ihrer ehemaligen Arbeitgeber. Zu der Auktion ihres gesamten Besitzes 2007 kam es, weil sie die Gebühr für die Einlagerung nicht mehr aufbringen konnte. John Maloof, der Hauptkäufer des Nachlasses, wichtigster Entdecker und Förderer ihres Werks, fand zwischen den Negativen den Aufkleber eines Fotolabors mit ihrem Namen, konnte sie aber nicht ausfindig machen. Erst als er 2009 im Internet auf ihre Todesanzeige stieß, kam er in Kontakt zu Menschen, die sie gekannt hatten. Maier, die sehr verschlossen war, wenn es um ihre privaten Angelegenheiten ging, hat fast nie jemandem ihre Fotos gezeigt. Bis heute ist ein Großteil des Riesenwerks noch unerschlossen – auch wenn die Eigentümer der Negative (vor allem Maloof, der mit der Howard Greenberg Gallery zusammenarbeitet) mittleweile aus dem Nachlass rund 400 Prints in limitierten Auflagen herausgegeben haben.

Die Bilder, die zum größten Teil in den Straßen von New York und Chicago entstanden, umkreisen den Alltag einer prosperierenden Nation, die nach dem Zweiten Weltkrieg zur wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Weltmacht aufgestiegen war. Maier zeigt nicht den amerikanischen Traum, sondern das wahre Leben in einem Alltag, in dem Erfolg und Wohlstand für viele unerreichbar bleibt. Die Fotografin ist keine soziale Anklägerin, aber eine höchst aufmerksame Beobachterin mit einem sensiblen Nerv für besondere, oft schräge oder auch skurrile Situationen in der Normalität der Großstadt.

Ob reich oder arm, am liebsten nimmt sie Menschen auf, wenn sie sich unbeobachtet fühlen. Ein Polizist, der sich vor einem Mode-Schaufenster eine Zigarette anzündet; eine Frau, die auf dem Bürgersteig ihre Töchter fotografiert; zwei Passantinnen, die gerade nicht guter Laune sind, das Unwohlsein ist ihnen ins Gesicht geschrieben; Männer, die auf einer Türschwelle oder im Auto schlafen; ein Mann im Western-Outfit mitten in Manhattan: Das alles hält sie fest, wenn sich daraus eine besondere Komposition ergibt. Die Reichen kommen ebenso vor wie die Mittelschicht, die sich durchs Leben kämpft, und sehr häufig auch die Menschen am Rand der Gesellschaft. Oft stellt sie sich mit strengem, verschlossenen Gesicht selbst dar, in Spiegeln, Schaufenstern oder als Schatten.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Eine New Yorker Impression, aufgenommen 1953. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

Die ehemaligen Bekannten, Arbeitgeber und von ihr großgezogenen Kinder, die nach ihrer Entdeckung noch befragt werden konnten, berichteten, dass sie fast immer die Kamera um den Hals trug, wenn sie außer Haus war. Das Beobachten der Welt und der Menschen durch den Sucher der Kamera war ihr zur zweiten Natur geworden. Sie fotografierte offenbar sehr diskret, meist ohne bemerkt zu werden, aber nicht wenige ihrer Sekundenschüsse zeugen auch von einer gewissen Unverfrorenheit, Menschen aus der Nähe in privaten oder nicht sehr schmeichelhaften Situationen aufzunehmen. Immer wieder offenbart sich ihr Sensorium für vermeintliche Nebensächlichkeiten, für Details, die mehr aussagen, als man zunächst denkt: die aufwenige Frisur einer offenbar wohlhabenden Lady von hinten, ein verlorener Schuh, ein eingegipstes Bein, Schaufenster und Leuchtreklamen, die Hände eines Liebespaars oder das Gesäß einer Frau, das zwischen einer Parkbank hervorquillt.

Was Maiers Fotografie neben ihrem menschlichen und sozialen Gehalt so aufregend macht, ist ihre Bildsprache. Sei es im Quadratformat der Rolleiflex, die sie für die Schwarz-Weiß-Bilder nutzte oder in den rechteckigen Farbaufnahmen mit der Kleinbildkamera: Es ist alles genau komponiert, ohne je zu perfekt zu wirken. Immer entsteht im Wechselspiel von Mensch und Stadt irgendein besonderer Effekt; nur dann drückte sie ab. Gefunden in Sekunden, sind es Bilder für die Ewigkeit.

Vivian Maier Werkstattgalerie Noack Howard Greenberg Gallery
Spiegelungen und Fenster spielen bei Vivian Maier immer wieder eine wichtige Rolle, eine New Yorker Aufnahme von 1953. © The Estate of Vivian Maier, Courtesy of Maloof Collection and Howard Greenberg Gallery

Service

AUSSTELLUNG

„Vivian Maier. Streetqueen“,
Werkstattgalerie Hermann Noack, Berlin,
verlängert bis 27. Februar

noack.berlin

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