Liebhaber des Gesellschaftskritikers wünschen sich schon lange ein Museum für George Grosz. Jetzt startet es in einer ehemaligen Tankstelle in Berlin und will vernachlässigte Aspekte im Werk des Künstlers beleuchten
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12.05.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 198
Fettbäuchige Kapitalisten, stiernackige Militärs und dralle Huren bevölkern die Bildwelt des George Grosz, damals in den Mappenwerken des linken und avantgardistischen Malik-Verlags unters Volk gebracht. Berlin, das war für den schnell und scharf beobachtenden Zeichner eine Ansammlung wüster, vulgärer und gewalttätiger Typen. Diese Figuren führte 1926 ein großformatiges Gemälde vor: Sie rempeln einander an, schieben sich in blinder Wut aus dem Bild heraus, im Hintergrund lodern Flammen aus einem Hochhaus. Vor den einstürzenden Neubauten der Moderne spielen sich die Reaktionäre auf als „Stützen der Gesellschaft“. Diesen Titel gab Grosz seinem Werk, heute ein Blickfang in der Neuen Nationalgalerie in Berlin.
Wie der Künstler selbst auf sein berühmt gewordenes Bild schaute, das lässt sich in einer geräumigen Lagerhalle im Berliner Stadtteil Tempelhof verfolgen. Zielsicher zieht Ralph Jentsch zwei Fotos aus einem der zahllosen Ordner. Zwischen Tausenden von Zeitschriften und Büchern, Katalogen und Auktionslisten, einer Dokumentation des kompletten Briefwechsels, Prozessakten und Zeugnissen von Zeitgenossen findet Jentsch schnell die beiden Porträtaufnahmen. Die alten Abzüge verraten viel, ja Wesentliches über George Grosz. Selbstbewusst und voller Unternehmungsgeist, die Maiskolbenpfeife des Bohemiens im Mundwinkel und die Palette in der Hand, sitzt der Gegner allen Spießertums und des Militarismus 1928 neben den „Stützen der Gesellschaft“ an einem neuen Werk. Auf dem Foto von 1954, fünf Jahre vor seinem Tod, hockt Grosz mit gutbürgerlicher Zigarre zwischen den Fingern auf dem Boden vor dem Bild. Er schaut in die Kamera, als sei er von Zweifeln geplagt und würde am liebsten zwischen den Figuren in seinem Gemälde verschwinden.
Jentsch gelingt es, mit nur zwei Fotos ein ganzes Künstlerleben zu umreißen; er weiß, welche Register er ziehen muss. Und ohne ihn läuft fast nichts in Sachen Grosz. 1994 setzten die Söhne und Erben des Künstlers, Marty und Peter, den heute 77-Jährigen zum Nachlassverwalter des New Yorker George Grosz Estate ein. Privat konnte der Kunsthändler, Verleger und Autor, Provenienzforscher und Kurator seither eines der größten Archive zu Grosz, seinem Galeristen Alfred Flechtheim und dem künstlerischen Umfeld zusammentragen. „Kein Museum ohne wissenschaftliche Forschung“ ist die Devise des Autodidakten.
Beckmann, Grosz und Dix wurden zu Helden seiner Jugend. Ohne Universitätsstudium reiste der Sohn eines Grafiksammlers per Anhalter durch Europa und verbrachte Tage, oft Wochen in den Kupferstichkabinetten. In Esslingen, wo er eine Galerie betrieb, initiierte er Anfang der Siebzigerjahre mit einer großen Munch-Ausstellung den Ausbau der Villa Merkel zum öffentlichen Ausstellungsort. Dann zog es ihn nach Italien, wo er in Rom, Florenz und eine Zeit lang sogar in der legendären Casa Malaparte auf Capri lebte.
Seit 2003 setzte Jentsch seine internationalen Kontakte ein, um ein Grosz-Museum zu gründen. Doch schließlich wurde das Projekt von Lilian, Witwe des 2006 verstorbenen Peter Grosz, torpediert. Jetzt ist es aber endlich so weit: Am 14. Mai eröffnet in Berlin „Das kleine Grosz Museum“. Mit 190 Quadratmeter Ausstellungsfläche, verteilt auf zwei schmale Etagen, ist es tatsächlich klein. Umso feiner soll es sein. Unten eine Dauerpräsentation, in der alle paar Monate Arbeiten ausgewechselt werden, oben wechselnde Ausstellungen zu bislang kaum gewürdigten Aspekten im Schaffen des Künstlers. Knapp 100 Werke sind zu sehen.
Anwälte, Verleger, Kaufleute, Kunsthändler und Künstler gründeten 2015 den Förderverein „George Grosz in Berlin“ und wählten Jentsch zum Vorsitzenden. Durch Spenden wurde das finanzielle Fundament gelegt. Neben dem Geld gab „keine Sammlung, kein Gebäude, aber viele Ideen“, resümiert Pay Matthis Karstens. Der Kunsthistoriker und Co-Direktor der Galerie Judin kuratiert die Ideen, ist beteiligt an der multimedialen Dauerschau und konzipierte mit Jentsch die erste Ausstellung „Gross vor Grosz. Die frühen Jahre“.
Das Gebäude an der Bülowstraße in Schöneberg stellt Juerg Judin gegen Miete zur Verfügung. Der Berliner Galerist hat sich 2009 mit seiner Ausstellung „Die Jahre in Amerika 1933–1958“ nicht nur als Kenner und Sammler des Künstlers geoutet. Sein Katalog von damals, ein Standardwerk zu dem zuvor vernachlässigten Thema, gleicht passagenweise einem vorweggenommenen Muster für die Ausstellungen im kleinen Grosz Museum: Kunstwerke aus dem Grosz-Nachlass oder anderen privaten Quellen, dazu erläuternde Beigaben – Fotos, Skizzen oder Einladungskarten – aus dem Archiv von Jentsch. In ähnlicher Mischung soll auch das Haus bespielt werden.