Für die weltgrößte Sammlung von Werken Edvard Munchs hat Oslo ein neues Museum gebaut – das auf sperrige Weise zu Norwegens Maler und seiner dramatischen Weltsicht passt
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17.05.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 194
Mag man das gebündelte Herzeleid an dieser Stelle noch anekdotenhaft-unterhaltsam finden und insgeheim den Rausch der Farben in Munchs Bilder genießen, lässt das nächste Kabinett zum Thema „Tod“ keine emotionale Distanz mehr zu. Die Tuberkulose nahm dem Maler früh seine Mutter, fast zehn Jahre später auch seine Schwester. An Letztere erinnert die Lithografie „Das kranke Kind“ von 1896, ein Werk, das trotz seiner energischen Strichführung unfassbar zart wirkt. Das daneben platzierte gleichnamige Ölgemälde von 1927 zeigt mit seinem nervösen Duktus und dem unregelmäßigen Farbauftrag dieselbe Situation, nur gruseliger: Das rote Haar des Mädchens fieberfeucht am Schädel klebend, die bleiche Nase verschwindet im Weiß des Kissens, sodass das Gesicht wie ein Totenkopf aussieht. Es ist kaum zu ertragen. Weitere Bilder in diesem engen Raum heißen „Der Tod im Krankenzimmer“, „Todeskampf“ oder „Der Tod und das Kind“. Das letztgenannte zeigt im Hintergrund die verstorbene Mutter im Bett. Bei „Erbe“, entstanden in den Jahren 1897 bis 1899, weint eine sitzende Frau in ein Taschentuch, auf ihren Knien liegt ein leichenweißer Säugling. Wer malt so etwas?
Als junger Mann war Edvard Munch Teil der sogenannten Kristiania-Boheme, ein Kreis um den Schriftsteller Hans Jæger, der sich der Wahrhaftigkeit und Auseinandersetzung mit den eigenen Gefühlen verschrieben hatte. Der Maler, das ist in der Ausstellung leicht zu erkennen, hat diese Haltung in Bilder verwandelt. In der Gesamtschau seines Œuvres offenbart sich, dass Munch nicht dem Symbolismus anhing, obwohl er zweifellos von ihm inspiriert wurde. Doch anders als die meisten seiner symbolistischen Vorgänger illustriert er nicht. Er drückt aus. Seine Bilder – nicht nur die Landschaften – sind wahrhaftige Seelenlandschaften. Mit ihnen öffnet sich das Fenster zum Expressionismus.
Die anregende Sammlungspräsentation hinterlässt solch erhellende Momente, aber auch die eine oder andere offene Frage: Warum bewahrte Munch, wie im Kapitel „Variationen“ zu sehen, mehrere Fassungen seines Akts „Weinende Frau“ von 1907 in absurden Formaten? Werke, die bestenfalls als Studien durchgehen dürften und kaum für den Verkauf gedacht waren. Wie kam es 1918 zum Bildnis eines nackten schwarzen Mannes im Atelier? Und wie gelang es ihm, jene Riesenformate wie „Die Sonne“ (1910–1911) zu beherrschen, die im Kapitel „Monumental“ gezeigt werden? Hier bietet immerhin das umfangreiche Material auf der Museumswebseite eine Antwort: Munch, damals Anhänger einer vitalistischen Naturphilosophie, malte die Sonne im Freien auf einer Leiter. Bei dieser Studie für ein Gemälde, das heute in der Aula der Osloer Universität hängt, floss die Farbe übrigens besonders spontan und klecksig. In der Nahsicht glaubt man schon fast, den abstrakten Expressionismus aus der Zukunft grüßen zu sehen.
Und wo hängt nun „Der Schrei“? Für dieses fragile Jahrhundertwerk haben sich die Kuratoren einen besonderen Kniff ausgedacht: In einem schwarzen Kabinett öffnet sich immer zur vollen Stunde lautlos eines von drei Türchen in der Wand und gibt für 60 Minuten den Blick auf eine der Varianten frei – die Lithografie in Schwarz-Weiß von 1895, die zartfarbige Wachsmalstiftzeichnung von 1893 oder das glühende Gemälde, wohl von 1910. Fällt der Spot dann auf Letzteres, ist das Publikumsentzücken deutlich zu hören. Das Ganze ist natürlich Inszenierungskitsch. Aber zu diesem Zeitpunkt hat man in der Ausstellung schon so viel über die Kunst und das Leben erfahren, dass man ein bisschen theatralisches Brimborium gern verzeiht.
Der Weg zum Schrei
Vier farbige Varianten sind vom berühmtesten Werk des Malers bekannt – drei davon bewahren Museen in Oslo. Neben den zwei Versionen im Munch-Museum besitzt das Nasjonalmuseet eine von 1893. Im Juni 2022 eröffnet ein gigantischer Neubau des Nationalmuseums, dann sind wieder drei „Schrei“-Bilder in Oslo zu sehen.
Munchmuseet
Oslo, Norwegen
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Nasjonalmuseet
Oslo, Norwegen
Neueröffnung: 11. Juni 2022