Mit ihrer 14. Ausgabe ist die Wanderbiennale Manifesta in Pristina, der Hauptstadt Kosovos angekommen. Diese wichtige europäische Kunstschau füllt hier urbane Leerstellen 100 Tage lang mit Leben, Ideen und Erinnerung
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27.07.2022
„Wenn die Sonne erlischt, bemalen wir den Himmel“. In großen Leuchtbuchstaben prangt dieser Sinnspruch auf dem Dach des Grand Hotel Pristina. Der Künstler Petrit Halilaj hat den Satz – natürlich in albanischer Sprache – anlässlich der Manifesta 14 hoch über einem der zentralen Plätze von Kosovos Hauptstadt anbringen lassen. Programmatisch steht er hier für jene Ausgabe der nomadischen europäischen Biennale, die nun in der Kapitale des jungen, noch wenig touristischen Staats ausgetragen wird. Über 100 Tage sind an verschiedenen Orten Pristinas die Werke und Interventionen von etwa 100 zumeist südosteuropäischen Künstlerinnen und Künstlern zu sehen.
Programmatisch ist der Satz insofern, als die Manifesta die Leerstellen des Landes und seiner Hauptstadt zum Thema macht. Diese Leerstellen sind sowohl ideologisch als auch räumlich zu verstehen. Es geht um nationale Identität, individuelles Erinnern und die Erzählung erlebter Geschichte. Gleichzeitig aber auch um die sozialökologische Neugestaltung einer Stadt, die geprägt ist von Straßen, Brachen, Baustellen und leerstehenden Gebäuden. Die erloschene Sonne des alten Kosovo, der eingebunden ist in einen jugoslawischen, multiethnischen Sozialismus – diese Idee endete mit dem Verlust der regionalen Autonomie 1989. Das Grand Hotel, ein 1978 eröffneter, marmorverkleideter Protzbau, verkörpert in gewisser Weise diese Idee. In den 1990er-Jahren wurde das Etablissement privatisiert, heute sind die meisten Etagen verwaist. Der Unabhängigkeitskrieg und die Intervention durch die NATO 1998/99 schafften in Kosovo schließlich eine Situation, in der eine neue politische und soziale Gestaltung des Landes denkbar wurde. Nun ließ sich der leer gewordene Himmel bemalen.
Während der Eröffnungsveranstaltungen zur Manifesta 14 zeigte sich, wie sehr gerade junge Akteurinnen und Akteure aus der Region ein solches Ereignis herbeigesehnt hatten. So wurde der Auftritt des Hamburger Elektromusikers Felix Kubin im Kino Armata frenetisch gefeiert.
In ihrem Katalogbeitrag spricht Catherine Nichols, die in Berlin lebende australische Kuratorin der Manifesta 14, ein besonderes Problem der kosovarischen Kulturschaffenden an: Durch schlechte Visabedingungen sind sie vom internationalen Kunstgeschehen praktisch abgeschnitten. Also sei es nötig, die globale Kunstszene nach Pristina zu holen.
Petrit Halilaj hat die nach und nach verlorengegangenen Sterne des einstigen Luxushotels zusammengetragen und auf dessen Dach wieder zum Leuchten gebracht. In der Nacht sieht man sie blinken. Es sind Bauten wie das marode modernistische Hotel, Emblem eines untergegangenen Staates, die auf dieser Manifesta sowohl Kunstwerke aufnehmen, als auch durch ihren Symbolcharakter oder ihre eigenwillige Ästhetik selbst als Exponat fungieren – eine Praxis, die sich bereits bei den letzten beiden Ausgaben in Palermo und Marseille als fruchtbar erwiesen hat.
Anders als in diesen beim westlichen Kunstpublikum beliebten Hafenstädten steht man hier vor einer sehr viel größeren Schwierigkeit: Die Crowd muss erst nach Pristina gelockt werden. Dies betrifft im Übrigen nicht nur die Hauptstadt, sondern die gesamte Region, weswegen Catherine Nichols gerne unterstreicht, bei der Planung der Manifesta das albanische Tirana sowie das mazedonische Skopje stets mitgedacht zu haben.
Die zentrale Ausstellung der Biennale erstreckt sich über sieben Etagen des Grand Hotels. Die Stockwerke sind unterschiedlichen Themen zugeordnet, die bedeutsam sind für die Neuorientierung einer in die Krise geratenen Gesellschaft: Transition, Migration, Ökologie oder Kapital. Pandemie, Klimawandel und ein Angriffskrieg in Europa bringen nahezu jede Gesellschaft in Bedrängnis, und so erhalten die auf den Kosovo und die Region bezogenen Werke eine akute Universalität.
So auch die fünfteilige Videoarbeit „Fragments I – Where stories cut across the land“ des albanischen Künstlers Vangjush Vellahu. Von 2015 bis 2018 bereiste er südosteuropäische Regionen, die aufgrund ethnischer oder von Großmächten forcierter Konflikte in einem ungesicherten Status verharren, beispielsweise Abchasien, Transnistrien, Südossetien und eben den Kosovo. Auf im Hotelkorridor verteilten Bildschirmen erlebt man Fahrten durch diverse von Konflikten gezeichnete Landstriche, ergänzt werden diese Touren jeweils durch ein Gespräch mit einem Bewohner.
Der Filmemacher ergreift in all diesen Konflikten eindeutig Partei und erlaubt den Betrachtenden keine eigene Perspektive. Durch das Zurschaustellen einer zerstörten, zerbombten, mit Stacheldraht versehrten Landschaft und der Beschränkung auf eine einzige Gewährsperson wird der Blick verengt. Hier offenbart sich die Schwäche der Oral History. O-Töne der von Konflikten betroffenen Personen sind in zahlreichen Kunstwerken derzeit das Stilmittel der Stunde, auf der Documenta ebenso wie in Pristina. Vellahus Interviewpartner jonglieren mit privaten und kollektiven Mythen, glorifizieren die alten Zeiten und verlieren sich in einseitigen Schuldzuweisungen. Für Ambivalenz ist hier kein Platz.