Mit ihrer 14. Ausgabe ist die Wanderbiennale Manifesta in Pristina, der Hauptstadt Kosovos angekommen. Diese wichtige europäische Kunstschau füllt hier urbane Leerstellen 100 Tage lang mit Leben, Ideen und Erinnerung
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27.07.2022
Einen kritischen und weit interessanteren Zugriff mit den Methoden der Oral History wagt die Künstlerin Jelena Jureša in ihrer 2019 entstandenen Videoarbeit „Aphasie (Act Three) – A Kid from the Neighbourhood“, die in der Nationalgalerie ausgestellt ist. Jurešas Ausgangspunkt ist eine Zeitungsfotografie aus dem Bosnienkrieg. Das eigentliche Foto tritt nicht in Erscheinung, jedoch erfährt man in der Nacherzählung der Künstlerin, es seien weibliche bosnische Leichen darauf zu sehen sowie ein serbischer Soldat, der einem Leichnam voller Zufriedenheit den schweren Stiefel ins Gesicht drückt. Man erfährt auch aus dem Bericht einer bosnischen Journalistin, dass der junge Soldat ein gefeierter DJ der Underground-Technoszene in Belgrad war. Das Gesicht einer progressiven Subkultur und das eines bestialischen Krieges verschmelzen. Im zweiten Teil des einstündigen Filmes sieht man die Künstlerin allein in einem Club tanzen. Ihre Bewegungen gemahnen an das Hantieren mit einer Schusswaffe oder eine Vergewaltigung. Mit subtilen Mitteln entfaltet Jureša vor unseren Augen die schier unerträgliche Auswegslosigkeit dieses Konflikts.
Neben dem Grand Hotel als zentralem Austragungsort hat Kuratorin Catherine Nichols eine Reihe weiterer einst bedeutsamer, heute heruntergekommener Gebäude ausgewählt. Hervorzuheben wäre der 1977 errichtete Palast des Sports und der Jugend. In die Planung waren die Bewohnerinnen und Bewohner Pristinas miteinbezogen. Das Gebäude hat die erstaunliche Form einer flachgedrückten gotischen Kathedrale, deren Betonstützen in den Himmel ragen. Bis zu einem Brand im Jahre 2000 waren hier eine Eisbahn untergebracht. Diese Hälfte des brutalistischen Baus wird heute als Parkhaus genutzt. Die Künstlerin Lee Bul hat über die Parkfläche einen riesigen, silbern glitzernden Zeppelin gespannt, der die Halle als Schauplatz der Manifesta markiert.
Zum Selbstverständnis der Manifesta gehört unbedingt die Zusammenarbeit mit lokalen Akteurinnen und Akteuren. So wird die Kollaboration mit Bürgermeister Përparim Rama und der Stadtverwaltung als sehr eng beschrieben. Keine Überraschung, schließlich ist Rama ausgebildeter Stadtplaner und verantwortete während der Architekturbiennale Venedig 2012 den ersten kosovarischen Pavillon. Gemeinsam versucht man, die Stadt von ihren gegenwärtigen Leerstellen aus weiterzuentwickeln.
So wurde etwa auf einem Stück verlassener Eisenbahnstrecke ein grüner Korridor geschaffen, der über ein Tal hinweg zwei Teile der im Sommer heißen und staubigen Stadt miteinander verbindet. Konzipiert wurde der üppig bepflanzte Fußgängerübergang vom italienischen Stadtplanungsbüro Carlo Ratti Associati, das an der Planung der Manifesta maßgeblich beteiligt war.
Als eine lebendige Hinterlassenschaft der Schau soll das Center for Narrative Practice bestehen bleiben. Es ist in einer von einem ruhigen Garten umgebenen Villa einquartiert, die 1930 im K.u.K.-Stil errichtet wurde und eine Bibliothek beherbergte. Künftig dient das Zentrum dem Austausch der Nachbarschaft. Während der Manifesta stehen die Räume verschiedenen künstlerischen und politischen Aktivistinnen und Aktivisten zur Verfügung, die ihre Erfahrungen zur Diskussion stellen wollen – kein schlechter Ort, um über die Zukunft einer krisenhaften Gesellschaft nachzudenken.