Der französische Künstler JR begann als Sprayer, heute stellt er seine Street Art in Museen aus. Die Kunsthalle München zeichnet seine Reise von den Pariser Vororten in die Welt nach
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29.08.2022
Eigentlich wollte JR seine Aktion nicht noch einmal wiederholen. Zum ersten Mal zeigte der Künstler, bekannt für seine Monumentalporträts im Stadtraum, das 45 Meter große Schwarz-Weiß-Bild der kleinen Valeriia am 14. März in Lwiw in der Ukraine. Über 100 Helferinnen und Helfer waren damals gekommen, um das Banner auf den Straßen zu entfalten: Das Bild des Mädchens, das breit lächelnd auf dem Asphalt hüpft, sollte aus dem Himmel für russische Kampfpiloten sichtbar sein und sie dran erinnern, wessen Leben in diesem sinnlosen Krieg auf dem Spiel stehen. Die Aktion machte Schlagzeilen: JR landete auf dem Cover des Time Magazine und zeigte das Projekt später in Paris, Düsseldorf und zuletzt auf der Biennale in Venedig. Ein halbes Jahr ist seit dem Beginn der russischen Invasion vergangen. Doch weil der Angriffskrieg noch immer andauert, brachte JR das Bild mit nach München. Anlässlich der Eröffnung seiner Retrospektive in der Kunsthalle wurde es auf dem Odeonsplatz entrollt. Als Zeichen der Hoffnung.
Menschen eine Bühne geben, die von der Gesellschaft vergessen werden, das war JR schon früh ein Anliegen. 1983 wurde er in Paris in eine tunesisch-französische Familie hineingeboren und wuchs in den Banlieues der Stadt auf. Als Jugendlicher zog er mit seinen Freunden durch die Straßen, besprühte Züge und hinterließ Graffiti auf Hausfassaden. Damals gab er sich den Namen JR – eine Abkürzung für seinen Vornamen Jean-René, aber auch für den Ausdruck „Juste Ridicule“, was so viel heißt wie „einfach lächerlich“. Eines Tages fand er in einem U-Bahnhof eine Kamera und begann seine Freunde bei den Streifzügen zu fotografieren.
Mit diesen Episoden startet die Schau in der Kunsthalle München: In einer Vitrine liegt JRs Analogkamera, ein unscheinbares Modell mit zahllosen Kratzern. An den Wänden sieht man die Fotos seiner Crew – beim Rumhängen auf Spielplätzen, Dächern und in der Métro. Bald ging er dazu über, diese Aufnahmen der illegalen Aktionen als Ausgangsmaterial für seine eigene Street Art zu nutzen: In Schwarz-Weiß auf einfaches Papier gedruckt, tapezierte er sie in der Pariser Innenstadt. Diejenigen, die an die Ränder der Stadt gedrängt worden waren, sollten mit seiner „Expo 2 Rue“ (2001–2004), seiner Straßenausstellung, im Zentrum platziert werden.
Gemeinsam mit dem Filmemacher Ladj Ly begann er 2004 das Projekt „Portrait of a Generation“: Die Arbeit spielt mit den Vorurteilen der weißen Mehrheitsgesellschaft, die die Jungs aus den Vororten pauschal als kriminell abstempelt. Im ersten Bild der Serie richtet ein finster dreinblickender Ly seine Kamera wie eine Waffe auf den Betrachter. Später kommen Close-Up-Aufnahmen von anderen Jugendlichen hinzu. Sie schneiden Grimassen, verziehen die Gesichter und parodieren so den abwertenden Blick, den der Rest von Paris auf sie hat. Die Porträts plakatierte JR im Großformat nicht nur im Viertel, sondern auch in den teuren Nachbarschaften – versehen mit Namen, Alter und Adressen der Jugendlichen, um den vermeintlichen „Monstern“ Menschlichkeit zurückzugeben.
Von Paris zog JR weiter in die Welt: Für „Face 2 Face“ fotografierte er 2006 in Israel und den palästinensischen Gebieten Menschen, die dieselben Berufe ausüben. In Paaren präsentierte er die Bilder auf den beiden Seiten der Grenzmauer, ohne Aufschluss darüber zu geben, wo das jeweilige Foto aufgenommen worden war. Auf Reisen durch die Armenviertel von Liberia, Kenia, Indien und Brasilien porträtierte er immer wieder Frauen: „Women are Heros“ (2008–2014) wurde auf Fassaden, Wellblechdächern und Brücken angebracht. Das Projekt verstand JR als feministisches Statement, das die Rechte von Frauen weltweit stärken sollte.