Die 86-jährige Joan Jonas verzaubert das Münchner Haus der Kunst mit einer farbenfrohen Melange aus Tanz, Musik und Videos
Von
13.09.2022
Sind diese Riesen-Spiegel einfach nur trügerisch? Oder sind sie teuflisch und monströs? Im Terrassensaal am Englischen Garten tanzen 15 Stück davon 30 Minuten lang zusammen mit 15 Darstellenden, werfen tausende Reflexionen an Wände, Decke, Boden und verwandeln dadurch beständig alle Körper und den Raum. Es geht um Publikumsbespiegelung, um Narzissmus, Feminismus, den Terror des Blicks, die Ästhetik von Macht. Und eine Spiegelfrau rezipiert als Prolog einen Text von Jorge Luis Borges. Die rätselvolle New Yorker Performance von 1969 – oder genauer: eine aktualisierte Version davon namens Mirror Piece I & II – setzte am Donnerstagabend im Haus der Kunst die Prelude zur neuen Ausstellung von Joan Jonas, die durch extreme Körperlichkeit und virtuose Raumbeherrschung begeistert.
Und seit Freitag ist die Retrospektive, deren Planung auf den verstorbenen Direktor Okwui Enwezor zurückgeht, nun für alle eröffnet. Der hatte sich und das Programm des Münchner Ausstellungshauses zwischen 2011 und 2018 explizit einer globalen Betrachtungsweise mit möglichst vielfältigen künstlerischen Positionen sowie „den kritischen Stimmen der unterschiedlichen Generationen und Kontinente“ verschrieben. Die 86-jährige US-Amerikanerin ist eine Kunstpionierin, die mit ihren oft interdisziplinären Installationen – zumindest in Europa – weniger im Bewusstsein ist als Stars wie Bill Viola, Bruce Nauman oder Nam June Paik. Dies ist ihre bis dato größte Schau in Deutschland.
Jonas gilt als wegweisend, seit sie in den 1960er und 1970er Jahren damit begann, Erzählungen und Mythen in die damals neuen Medien Video und Performance einzuarbeiten, zu deren Begründerinnen und Begründern sie gehört. Sie schöpfte mit und im Umkreis von Pop-Künstlern wie Robert Rauschenberg und Claes Oldenburg, des Metallbildhauers Richard Serra und von Musikern wie Laurie Anderson oder John Cage. Das prägte ihren offenen, fast eklektischen Umgang mit Medien, Orten, Disziplinen und Kategorien. Andrea Lissoni, der künstlerische Direktor im zuletzt krisengeschüttelten Haus der Kunst sowie Co-Kurator der Ausstellung, betonte in seiner Rede zur Eröffnung die Bedeutung der Jonas-Schau auch für den Transformationsprozess seiner Institution: „Ich freue mich sehr darauf, ihre faszinierenden, freudigen, experimentellen und zum Nachdenken anregenden Welten mit unserem Publikum zu teilen“.
Joan Jonas‘ Werk ist stark von Kabuki und Noh-Theater, von Literatur und ihren zahlreichen Reisen geprägt. Sie arbeitet mit Musik, Text, Choreografie, Zeichnungen, Kostümen, Requisiten und vermengt seit fünf Jahrzehnten Techniken des Films und des Theaters, um die Grenzen von Kunst und Wahrnehmung zu verschieben. Die Künstlerin ist dabei an der sozialen Funktion von Märchen, Mythen und Ritualen für die Gemeinschaft ebenso interessiert wie an geschlechtlichen Zuschreibungen und an ökologischen Fragestellungen. Die Not der Natur war schon lange, bevor die Welt die Klimakatastrophe entdeckte, ihr Thema. Im Erdgeschoss des HdK sind rund 25 Arbeiten zu sehen, eher thematisch als linear chronologisch gegliedert, was der Intention der Künstlerin entspricht. Die Böden sind mit einem simplen Holzraster entglorifiziert. Die Ausstellung war zuerst 2018 in der Tate Modern, wo Lissoni bis 2019 als Kurator für Film und zeitgenössische Kunst arbeitete.
Die damalige Schau ist jetzt – nach einer durch Personal- und Finanzprobleme am Haus der Kunst sowie Corona erzwungenen Verschiebung – um zwei neue Werke ergänzt. In der Mittelhalle wird – erstmals in Europa – Rivers to the Abyssal Plain präsentiert. Das ist ein vielgliedriges Opus aus einem kurzen Film, Zeichnungen und installativen Elementen, welches 2021 für die 13. Shanghai Biennale Bodies of Water entstand. Das Werk steht für ihre allgegenwärtige Beschäftigung mit dem Ökosystem des Wassers und für ihren künstlerischen Umgang mit Forschung – hier von Jonas zauberhaft als historisch-geografisch-industrieller Trialog zwischen der Megastadt, ihrem ehemaligen Kohlekraftwerk (dem Biennale-Schauplatz Power Station of Art) und dem benachbarten Huangpu River zusammengesponnen. Besonders faszinierend ist darin das – typischerweise vom Wind durchpflügte – Video am Meeresstrand, in dem die weißgekleidete Jonas wie eine Hohepriesterin zwischen anderen Performerinnen und Performern wandelt. Ebenfalls Neuland wird die für 13. November geplante Performance „Out Takes: What the Storm Washed In“ darstellen, wo die elegante Frau mit der sonoren Stimme selbst live als Akteurin auftreten möchte.