Die Architekturaufnahmen der Gebäude in Dessau kennt die ganze Welt. Aber kaum jemand weiß, wer die ikonischen Bilder schuf. Es war Lucia Moholy, die als wichtige Bauhaus-Fotografin lange übersehen wurde
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30.09.2022
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Erschienen in
WELTKUNST Nr. 204
Was László und Lucia über die neueste Technik geschrieben und vermutet haben, das wäre am Bauhaus zu erproben – doch Fotografie ist dort 1923 noch kein Lehrfach. Stattdessen hat der frisch berufene Meister Moholy-Nagy reichlich zu tun mit Vorkurs und Metallwerkstatt. Aber seiner Frau bleibt viel Zeit, um die aus Berlin mitgebrachte Holzkamera einzusetzen. Ohne Anstellung oder Auftrag kümmert Lucia sich um die Dokumentation der Werkstattprodukte. Der Apparat im Großformat 18 x 24 Zentimeter benötigt ein Stativ, davor werden Keramik, Metall- und Holzobjekte arrangiert – auf einer Glasplatte. Dadurch gelingen schattenfreie Aufnahmen. Ein altbewährter Trick, solides Fotografenhandwerk. Wer genau hinschaut, erkennt darüber hinaus ein ausbalanciertes, „konstruktivistisches“ Spiel mit geometrischen Formen, mit den Umrissen und Volumina von Leuchten oder Teekannen.
Die Schwarz-Weiß-Abzüge, meist mit neutral retuschiertem Hintergrund, kommen Walter Gropius gelegen: Der Direktor geht mit Abbildungen nützlicher Bauhaus-Erzeugnisse auf Reklamefeldzug – und wirbt zugleich um Unterstützung für seine politisch angefeindete Einrichtung. Die Fotografie gilt nicht als Kunst, im Bauhaus unter Gropius wird sie benutzt wie ein stummer Diener – und auf Kosten von Lucia Moholy. Oft werden ihre Aufnahmen anonym – ohne Urhebervermerk, ohne Anspruch auf Autorenhonorar – abgedruckt, ausgestellt, auf Postkarten verbreitet. Den Publicity-Erfolg, aber auch die Schattenseiten dieser Strategie illustriert die Ausstellung „Lucia Moholy – Das Bild der Moderne“ in Berlin. Im Bröhan-Museum verweist der Direktor, Tobias Hoffmann, auf einen für einzelne Künstler fatalen Aspekt: „Das Bauhaus bekommt seine Aura durch zügellose Reproduktion.“
Der „Produktion“, dem schöpferischen Umgang mit der Fotografie, können sich die Moholys am Bauhaus einstweilen nur privat widmen. Zuerst ohne „Apparat“, mit kameralosen Fotogrammen. Alltagsobjekte – Küchensiebe, Rasierklingen – werden auf dem Fotopapier direkt belichtet, das ergibt abstrakte Kompositionen. 1927 stellt „Prof. Moholy-Nagy, der Erfinder der Photogramme“ in der Illustrierten Uhu diese „neue Spielerei mit lichtempfindlichem Papier“ vor. Ob nicht eher Man Ray oder Christian Schad das Fotogramm als Kunstform entdeckt haben, darüber wurde lange gestritten – ohne den Anteil Lucia Moholys zu würdigen. Das Fotogramm „Doppel-Selbstporträt“ aber kann um 1923 nur im Zusammenspiel entstanden sein: Lászlós und Lucias Profile verschwimmen ineinander, beide haben ihre Gesichter zwischen Fotopapier und Lichtquelle aneinandergeschmiegt, zärtlich und mit Kalkül.
Die Leidenschaft für Fotografie hat Lucia mitgebracht, ihr Wissen erweitert sie in Weimar mit einer Lehre im Atelier Eckner, zudem besucht sie Vorlesungen an der Leipziger Akademie. Als 1977 der Kunsthistoriker Andreas Haus nach den technischen Voraussetzungen fragt, antwortet Lucia Moholy, „dass ein Photogramm in der Regel ohne Labor-Arbeit nicht realisiert werden kann und eben diese – gesamte – Laborarbeit ausschließlich mir überlassen war“. Doch dieser Anteil an der „Produktion“, das Ausschöpfen des künstlerischen Potenzials in der Dunkelkammer, findet wenig Beachtung.
László, von dem Lucias Biograf Rolf Sachsse überliefert, dass er „kaum je eine Dunkelkammer betreten hat“, kauft sich 1925 die erste Leica. Der kleine Apparat erlaubt ihm, das neue Sehen zu erproben. Beim Urlaub in Ascona fotografiert er Lucia auf der Hotelterrasse schräg von unten. Diese aufsehenerregende Sichtweise avanciert im selben Jahr, mit dem Bauhaus-Umzug nach Dessau, zum Standard. „Stürzende Linien“ scheinen für Aufnahmen der Balkone an den neuen Gebäuden obligatorisch. Der Uhu stellt Moholy-Nagy 1929 unter der Schlagzeile „Eine neue Künstlergilde – Der Fotograf erobert Neuland“ neben herausragende Reporter wie André Kertész und Erich Salomon.
Kaum jemand bemerkt, dass auch Lucia längst „Neuland“ betreten hat: In Dessau setzt sie die neue Architektur ins Bild, das Bauhausgebäude von Gropius und die einzelnen Meisterhäuser. In ihrer sachlichen Präzision mit sorgsam austarierter Perspektive dokumentieren diese Fotografien adäquat das Ensemble rechtwinkliger Flachdachhäuser. Aber einige Aufnahmen, etwa vom „Werkstattflügel von Südwesten, 1926“, brechen die Konventionen: in extremer Untersicht ragt die Glasfassade keilförmig empor, von zwei Mauerstreifen eher beschleunigt denn begrenzt. Das ist Dynamik, pure Leichtigkeit, ein Zukunftsversprechen – und das künftige Markenzeichen des Bauhauses.
Die Autorin sorgt ebenfalls für die Verbreitung ihrer einmaligen Bilder. Sie ist wesentlich beteiligt an Redaktion und Gestaltung jener Bauhaus-Bücher, mit denen Dessau zum zentralen Ort auf der Weltkarte der Avantgarde aufsteigt. In Zeitschriften und auf Postkarten werden Architekturaufnahmen und Szenen aus dem Bauhaus-Alltag lanciert. In den Massenmedien wird der Name der Fotografin meist weggelassen.
Immerhin fast 60 Vintage-Prints, also Originalabzüge aus der Hand Lucia Moholys, konnte 2016 Thomas Derda, spezialisiert auf Kunst der 1920er-Jahre, in Berlin ausstellen. Im Katalog, mustergültig recherchiert, werden durchgängig alle Rückseiten der Fotografien dokumentiert. „Ein Urheber-Stempel findet sich nur bei etwa jedem zehnten Foto“, beschreibt der Galerist das Problem bei der Zuordnung. Nicht für den Kunstmarkt gedacht, verblieben die Abzüge in Lucias eigenem Archiv oder kehrten dorthin zurück – versehen mit „Regieanweisungen“ von László Moholy-Nagy und mit Druckvorgaben für die Veröffentlichung. Die meist handschriftlichen Notizen belegen, wie diese Aufnahmen verwendet wurden für Bücher, Musterkataloge oder Wandbilder bei der Werkbundausstellung 1930 in Paris.