Die 16. Biennale in Lyon zeichnet unter dem Titel „Manifesto of Fragility“ einprägsame Bilder von Porosität, Zerfall und Konservierung
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14.09.2022
Gipsabdrücke griechischer und römischer Gottheiten geschützt von weißen Kunststoffplanen, die über Baugerüste gespannt wurden. Ölgemälde, die an ihren brüchigsten Stellen von Japan-Papier wie von Pflastern abgedeckt wurden. Parkende Autos, kahle Bäume und ein Kinderspielplatz von grauer Asche verschneit.
Die Bilder der 16. Lyon Biennale sind einprägsam: Porosität, Zerfall und Konservierung sind die zentralen wiederkehrenden Bildmotive auf dieser Biennale, mit der ihre Kuratoren Sam Bardaouil und Till Fellrath (die seit 2021 auch den Hamburger Bahnhof in Berlin leiten) das Anliegen formuliert haben, ein Manifest der Fragilität zu erarbeiten – eine im Kollektiv der teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler entstehende politische Absichtserklärung also, die ein möglichst breites Publikum erreichen soll und wie jedes Manifest unübersehbar und unüberhörbar sein möchte. Wer die Biennale besucht wird schnell feststellen, dass genau dies gelungen ist.
An insgesamt zwölf Ausstellungsorten verweben die Kuratoren unterschiedliche wiederkehrende Narrative mit spürbar spielerischem Vergnügen zu einer Gesamterzählung, die den Besuchenden immer wieder assoziative Verbindungslinien anbietet: Sei es durch die an verschiedenen Orten mit unterschiedlichen Werken auftauchenden Künstlerinnen und Künstler, durch inhaltlich-thematische Bezugslinien oder auch durch die auf verschiedene Orte verteilten Sammlungsbestände der historischen und archäologischen Sammlungen Lyons.
Im Museum of Contemporary Art of Lyon (macLyon) wird dieser stark erzählerische Ansatz der Kuratoren in der Ausstellung „The many lives and deaths of Louise Brunet“ am transparentesten gemacht: Die 1834 während einer Revolte der Lyoner Seidenweberinnen verhaftete Arbeiterin Louise Brunet wird hier fiktionalisiert zu einem durch die Zeiten reisenden Avatar weiterentwickelt: Mit Louise Brunet lässt sich sowohl die Geschichte einer senegalesischen Frau erzählen, die im Jahr 1894 vor einer Kolonialausstellung aus Lyon flieht als auch die eines schwulen Künstlers, der 1992 im New Yorker St. Vincent Hospital an AIDS stirbt. In den hier geschaffenen Zeitkapseln, die die Sammlung des Museums in einen Dialog mit jungen Positionen bringt, wird so bereits jenes assoziative Spiel losgetreten, zu dem die Besuchenden an den anderen Orten der Biennale selbst eingeladen werden.
Dabei empfiehlt es sich, zunächst den umfangreichsten Standort, die ehemaligen Fagor Fabrikhallen im Südosten der Stadt aufzusuchen. In den mehr als 15 Meter hohen Hallen, in denen einst Waschmaschinen und später Autos produziert wurde, werden nun auf 29.000 Quadratmetern zahlreiche beeindruckende Rauminstallationen präsentiert, die eigens für die Biennale entstanden sind: Der kolumbianische Künstler Pedro Gómez-Egana lädt uns mit seiner Arbeit „Virgo“ dazu ein, ein scheinbar leer stehendes Wohnhaus zu betreten, das offenbar erst vor kurzem fluchtartig verlassen wurde. Kleine Hinweise, wie ein mehrfach auftauchendes Glas gefüllt mit Schere und Kugelschreibern und die immer gleiche Wanduhr deuten darauf hin, dass es sich um ein Heim oder Hotel handeln könnte, gleichzeitig aber versprüht jede der schmalen Parzellen eine große Individualität. In einem der Zimmerchen erklingt aus einem offen stehenden Laptop der traurige Klang einer Geige, während auf dem Bildschirm ein Tagebucheintrag von Geisterhand geschrieben wird: We remembered our living days wrong.
Wie wir uns einmal an unsere Gegenwart erinnern könnten, das untersuchen viele der Arbeiten in der ehemalige Fagor Fabrik: Etwa der belgische Künstler Hans Op de Beeck, der hier gleich eine gesamte Halle in eine Aschewelt verwandelt hat, in der die Besucher zwischen abgestorbenen Bäumen, parkenden Autos und einem verwaisten Kinderspielplatz die einzigen bunten Farbflecken bilden und wie durch Zufall Gestrandete durch eine mögliche Zukunft ihrer eigenen Umwelt staksen.