Lyon Biennale 2022

Vom falschen Erinnern der erlebten Tage

Die 16. Biennale in Lyon zeichnet unter dem Titel „Manifesto of Fragility“ einprägsame Bilder von Porosität, Zerfall und Konservierung

Von Felix von Boehm
14.09.2022

Die Atmosphäre der brüchigen menschlichen Existenz moduliert auch die tschechische Künstlerin Klára Hosnedlová in ihrer Installation „Sound of Hatching“, in der sie neue aus Baumwolle gewebte Bilder auf an Gletscherspalten erinnernden Epoxidharzsäulen präsentiert, die scheinbar jeden Augenblick in sich zusammenbrechen könnten. Geröll und Schutt am Boden der Installation deuten darauf hin.

Hosnedlovás Arbeiten werden hier klug in Bezug zu der Stimme einer anderen Generation gesetzt: Die zwischen 2006 und 2022 entstanden Skulpturen der französischen Künstlerin Sylvie Selig werden in unmittelbarer Nachbarschaft als „Weird Family zusammengefügt präsentiert. Die Kuratoren setzen diesen makabren Walzer der Untoten in Bezug zu alt-römischen Sarkophagen aus dem Lugdunum Museum, in dem Klára Hosnedlová wiederum einen der brutalistischen Beton-Erker in eine ähnliche Endzeit-Kapsel verwandelt hat, die durch schwefelgelbe Farbfolien direkt auf die Ruinen des römischen Theaters von Lyon blicken.

Sylvie Selig Weird Family Lyon Biennale
Die Skulpturen Sylvie Seligs, die gemeinsam die „Weird Family“ bilden, entstanden zwischen 2006 und 2022. © Blaise Adilon

Blicke durch Zeiten hindurch und auf andere Zeiten sind ein wiederkehrendes Motiv auf dieser Lyon Biennale. Am deutlichsten wird dieses spielerische Modulieren von Zeit vielleicht im Musée Guimet, das 1879 als Privatmuseum des Industriellen Émile Guimet errichtet wurde, bevor es in eine Brasserie, ein Theater, eine Eislaufhalle und schließlich ein naturhistorisches Museum umgewandelt wurde. Natürlich sind Räume mit so einer Geschichte dazu prädestiniert, zu weiteren Zeitreisen einzuladen: Sei es in Videoinstallationen wie dem „Morgenstraich des französischen Videokünstlers Clément Cogitore, einem grotesk anmutenden, scheinbar endlosen nächtlichen Basler Fastnachtsumzug auf einem Laufband oder in räumlichen Interventionen wie „Impulse“ von Evita Vasiljeva, die die verwaisten Archivräume des Musée Guimet scheinbar unter Strom gesetzt hat. Beim Betreten der neongrün ausgeleuchteten Rollregale, deren Aufschriften noch auf die ehemaligen Archivalien aus Indonesien, Ozeanien oder Madagaskar verweisen, künden elektrische Entladungen und ein Loch in der Wand von einer vor kurzem erfolgten Katastrophe. 

Auch in der eindrucksvollen zentralen Halle des Musée Guimet scheinen wir mit unserem Besuch wieder einmal „zu spät“ einzutreffen: Vor kurzem scheint sich hier ein Bruch, eine Zeitwendende ereignet zu haben. Die für diesen Ort geschaffene raumgreifende Installation „Grafted Memory System zeigt beschädigte Vitrinen, in denen Pflanzen, Insekten Knochen und Kabel so miteinander verwoben sind, dass hier offenbar etwas geschützt, aufbewahrt und für die Zukunft gesichert werden sollte, das nun doch keinen Bestand mehr haben wird. 

Evita Vasiljeva Impulse Lyon Biennale
Evita Vasiljeva setzt in der Installation „Impulse“ die verwaisten Archivräume des Musée Guimet scheinbar unter Strom. © Blandine Soulage

Neben den zahlreichen atmosphärischen Räumen, die das Gefühl der Fragilität unserer irdischen Existenz vermitteln und unweigerlich auch ein Unbehagen versprühen gibt es aber auch Räume der unmittelbar politischen Anklage und Auseinandersetzung. So ist beispielsweise die am Berliner Gorki Theater arbeitende polnische Regisseurin Marta Górnicka mit ihrem „Grundgesetz – ein chorischer Stresstestvertreten, in dem Repräsentanten unterschiedlicher sozialer, politischer und ethnischer Milieus unterschiedlich laut und doch gleichermaßen überzeugt skandieren: „Gegen jeden der es unternimmt diese Ordnung zu beseitigen haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand.“ Mit dieser Ordnung ist dabei das Grundgesetz gemeint, eine der letzten gesellschaftlichen Gewissheiten in einer zunehmend ungewissen Welt. 

Das Manifest der Fragilität, das die teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler gemeinsam mit den Kuratoren auf der 16. Lyon Biennale entwickeln, zieht seine politische Kraft vor allem aus den effektvollen Mitteln der Poesie, die sie und ihre Kuratoren bestens beherrschen. Die dabei entstandenen Bild-und Denkräume sind ebenso berührend wie verstörend. Vor allem in diesem Herbst ist Lyon daher eine Reise wert!

Service

Biennale

„Manifesto of Fragility“,

16. Biennale von Lyon,

14. September bis 31. Dezember,

labiennaledelyon.com

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