In einem Hôtel particulier des Pariser Parlamentsviertels bewahrt die niederländische Fondation Custodia Gemälde, Zeichnungen und Stiche des Goldenen Zeitalters. Die einzigartige Forschungseinrichtung erweitert kontinuierlich ihre Sammlung und überzeugt durch zauberhafte Ausstellungen
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28.11.2022
In der Nationalversammlung um die Ecke herrscht parlamentarischer Trubel. Doch hinter der Fassade von 121 rue de Lille im 7. Pariser Arrondissement ist von dem Kommen und Gehen der Abgeordneten nichts zu spüren. Hier scheint die Zeit stehengeblieben zu sein. Sobald man das Hôtel Turgot betritt, öffnet sich eine ganz eigene Welt. Der Prachtbau aus dem 18. Jahrhundert wurde auch von Anne Robert Jacques Turgot, dem Finanzminister Ludwigs XVI., bewohnt und beherbergt seit 1953 die Fondation Custodia. Herzstück dieser Forschungseinrichtung ist die Collection Frits Lugt. 1947 wurde die Stiftung von dem niederländischen Ehepaar Frits Lugt (1884-1970) und Jacoba Lugt-Klever (1888-1969) gegründet. Er: ein herausragender Kenner Alter Meister und unermüdlicher Sammler, sie: eine ebenso kunstsinnige, vermögende Erbin. Gemeinsam brachten sie Tausende Zeichnungen und Drucke, Hunderte Gemälde, zahlreiche Künstlerbriefe und Manuskripte, seltene Bücher, historische Rahmen, Skulpturen und Möbel in ihr „Haus der Kunst auf Papier“ ein und machten diesen Schatz öffentlich zugänglich.
Schon im Foyer beeindruckt ein Treppenaufgang mit dicht an dicht gehängten Skizzen im Querformat. Eine Idee des Direktors Ger Luijten, der das Haus seit 2010 führt und zuvor das Kupferstichkabinett des Rijksmuseums in Amsterdam leitete. „Mein Vor-Vorgänger Carlos van Hasselt interessierte sich für Pleinairskizzen“, erzählt er, „seine Sammlung hat er schließlich der Stiftung vermacht. Ich fand, dass Ölskizzen gut hierher passen würden, denn sie entstehen auch auf Papier. Also überzeugte ich den Stiftungsrat, ein Budget dafür bereitzustellen. Seitdem bin ich auf der Jagd. Dafür arbeite ich mit Marktkennerinnen und -kennern in Dänemark, Italien, Frankreich und Deutschland zusammen. Die meisten der aufgespürten Skizzen sind zwar anonym, doch einige kann ich sofort zuschreiben. Hier sehen Sie einen Carl Blechen, einen Christian Morgenstern, einen Eduard Pape, der aussieht wie ein Edward Hopper. Diese Sachen stehen außerhalb der Zeit.“ Nun nähert sich der Direktor mit dem feinen Sinn für Kunst auf Papier einer kleinen Landschaft des Dänen Vilhelm Hammershøi. „Das alles ist ein großes Abenteuer. Diese Bilder gehören zur Vorgeschichte des Impressionismus, ihre bescheidenen Formate entstanden unter freiem Himmel. Jetzt bin ich gefordert, eine Referenzsammlung auf diesem Gebiet aufzubauen.“
Dem enthusiastischen Experten, der eine Anekdote an die andere reiht, wird das sicherlich gelingen. Finanziell agiert die Stiftung vollkommen unabhängig vom französischen Staat, denn sie wurde nach amerikanischem Vorbild konzipiert. 1939 floh das Ehepaar Lugt vor den Nazis über die Schweiz in die USA und ließ sich erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Paris nieder. Im Exil verinnerlichte der Gelehrte Frits Lugt die Funktionsweise amerikanischer Stiftungen, etwa der Barnes Foundation oder der Rockefeller Foundation. Dank sprudelnder Einnahmen ihrer vermögenden Gründer waren diesen Einrichtungen keine Grenzen gesetzt: Sie wurden zu Forschungszentren, vergaben Stipendien, statteten sich mit opulenten Bibliotheken aus, archivierten nützliche Quellen und kauften zahlreiche Werke an. Nichts anderes tut auch Ger Luijten, ermöglicht wird ihm dieser Luxus durch das vom Stifterpaar und dem heutigen Schatzmeister nachhaltig investierte Kapital. Niederländische Zeichnungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert bilden zwar den Grundstein, dennoch öffnet Luijten das Haus für andere Kunstrichtungen. „Wir können nur zwei oder drei dieser Zeichnungen pro Jahr kaufen. Sie sind teuer und rar. Deshalb konzentriere ich mich auf Werke anderer Epochen“, sagt er, „dabei denken wir immer an Lugt. Was wir kaufen, hätte ihm gefallen müssen.“
Den Geschmack des einstigen Hausherrn kann man sich in den stillen Prunkräumen mit Aussicht auf einen zauberhaften Garten problemlos vergegenwärtigen. Die Gemälde und Zeichnungen an den Wänden spiegeln mit Starstücken von Rembrandt und Rubens Höhepunkte der niederländischen und flämischen Kunst des 17. Jahrhunderts wider, aber auch Italiener wie Beccafumi und Tiepolo oder Franzosen wie Lorrain und Degas sind hier vertreten. Sie hängen in historischen Rahmen, die von der Stiftung restauriert wurden. „Das ist das erste Gemälde, das ich gekauft habe“, erinnert sich Luijten lebhaft an den Erwerb eines Porträts von François Langlois, einem Freund Rembrandts, Rubens‘ und van Dycks. „Hier sehen Sie unseren jüngsten Ankauf, ein Album mit Briefen des Malers Henri Fantin-Latour. Und dort das teuerste Bild, das ich je erworben habe: Dieser Constable kostete uns 2019 eine halbe Million Euro. Weil John Constables Frau Mary lungenkrank war, ging das Paar aus London zur Sommerfrische nach Hamstead Heath. Dies ist die Aussicht aus seinem Schlafzimmer. Es ist gewissermaßen ein feministisches Werk, für viele so schön wie ein Vermeer. Wenige Jahre später starb Mary an Tuberkulose.“