In einem Hôtel particulier des Pariser Parlamentsviertels bewahrt die niederländische Fondation Custodia Gemälde, Zeichnungen und Stiche des Goldenen Zeitalters. Die einzigartige Forschungseinrichtung erweitert kontinuierlich ihre Sammlung und überzeugt durch zauberhafte Ausstellungen
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28.11.2022
Im Studierraum erhalten Forschende und Promovierende, Händlerinnen und Händler, Sammlerinnen und Sammler Einblicke in einzelne Werke der Kollektion. Einmal pro Woche werden auch öffentliche Führungen angeboten. Zudem unterhält die Forschungseinrichtung eine Restaurierungswerkstatt und eine der wichtigsten kunsthistorischen Bibliotheken Frankreichs mit mehr als 130 000 Bänden. Das Spektrum: westliche bildende Kunst von 1450 bis 1900. Ein weiterer Service ist die frei zugängliche Onlinedatenbank für Sammlungsmarken. Viele Sammler haben ihren Zeichnungen und Drucken einen persönlichen Stempel aufgedrückt: Ob Stempelmarken, handschriftliche Marken oder Etiketten – diese Datenbank ist ein Dorado für alle, die die Provenienz eines Blattes rekonstruieren wollen.
Im angrenzenden Hôtel Lévis-Mirepoix, das Frits Lugt und Jacoba Lugt-Klever 1953 zusammen mit dem Hôtel Turgot erwarben, präsentiert die Stiftung mehrmals im Jahr Ausstellungen, welche die Bandbreite der Sammlung verdeutlichen. Darüber hinaus werden monografische und thematische Ausstellungen organisiert, etwa 2013 zu Hieronymus Cock, dem berühmten Antwerpener Verleger, der seinen Zeitgenossen Pieter Bruegel in ganz Europa bekannt machte. Aktuell locken gleich zwei Schauen. Da wäre zum einen Dessins français du XIXème siècle – Fondation Custodia, eine Auswahl von 150 Zeichnungen des 19. Jahrhundert aus dem 1 800 Blätter umfassenden Bestand der Stiftung. Natürlich trifft man auf große Namen wie Delacroix, Ingres, Corot, Rosa Bonheur, aber in der Hängung dominiert dann doch Frits Lugts Vorliebe für Landschaft und Porträt in dieser Epoche.
Zum anderen sind die poetischen Alltagswelten des nahezu vergessenen Léon Bonvin eine veritable Entdeckung. Als Wirt in Vaugirard, einem Vorort von Paris, erwarb Bonvin sein Brot. Am 30. Januar1866 erhängte er sich mit nur 31 Jahren, hinterließ Frau und drei Kinder. In seiner Freizeit war er Maler – wie sein in Künstler- und Literaturkreisen weit bekannterer, 17 Jahre älterer Halbbruder François Bonvin, der mit Courbet befreundet war. François sorgte dafür, dass Léon die Grundlagen der Kunst erlernte: Zeichnung, Aquarell und Öl. Malen konnte der Wirt nur frühmorgens oder nachts. Man staunt über seine moderne Empfindsamkeit für das unwirtliche Niemandsland vor der Toren der Stadt, über seine Stillleben, in denen bescheidene Naturalien und Objekte wie Sellerie, Orangen, Ölkännchen und Flaschen im Mittelpunkt stehen, über wilde Feldblumen, die mit fotografischem Blick festgehalten wurden, über menschenleere Landstriche, in denen der Künstler versuchte, die melancholischen Effekte einer Dämmerung einzufangen.
Verkaufen konnte er seine Küchenszenen oder das Durcheinander von Grasbüscheln in brauner Erde kaum. Trotzdem gelangte ein Konvolut der Werke noch zu seinen Lebzeiten in die Sammlung des reichen Amerikaners William T. Walters, weshalb es heute im Walters Art Museum in Baltimore aufbewahrt wird. Das deutlich näher gelegene Musée d’Orsay besitzt auch eine wichtige Gruppe von dreizehn Zeichnungen. Die Fondation Custodia kaufte kürzlich ein Selbstporträt Léon Bonvins, gewidmet der Ehefrau, wenige Tage vor seinem endgültigen Abschied.
„Dessins français du XIXe siècle. Fondation Custodia“
„Léon Bonvin (1834–1866). Une poésie du réel“
Fondation Custodia, 121 rue de Lille, Paris
Beide Ausstellungen bis 8. Januar 2023