Wayne Thiebauds Bilder von schönen Menschen und cremigem Gebäck erinnern in der Basler Fondation Beyeler an die Blütezeit der Pop-Art
Von
28.03.2023
/
Erschienen in
Weltkunst Nr. 211
So muss es sein, wenn die Welt doch einmal erstarrt. Punkt zwölf Uhr zweiundzwanzig bleibt die Uhr stehen. Noch hat der Sekundenzeiger sein Minutenziel nicht vollends erreicht. Da rührt sich nichts mehr. Als sei alles Leben in ihr angehalten, sitzt die Studentin auf ihrem Collegestuhl mit Schreibpult. Wie plastifiziert. Modelliert vom Maler, der nichts seinem Modell überlassen hat, keine freie Arm-, keine eigene Beinstellung. Anders als die hyperrealistischen Kunststofffiguren des Duane Hanson, die immer so tun, als seien sie anwesend, mitten unter uns, blickt sie von sehr weit weg aus ihrem leblosen Bild.
Wayne Thiebaud hat nur leblose Bilder gemalt. Konsumgüter, vorzugsweise aus der Produktklasse süßen Kleingebäcks. Fensterblicke hinunter in Straßenschluchten. Figuren, sitzend, stehend, liegend. Lebensecht wie Schaufensterpuppen. Nichts geschieht. Alles verharrt wie im Museum mit den versteinerten Opfern des verschütteten Pompejis. Soll man Stillleben sagen? Stillleben wäre inszenierte Ewigkeit. Wayne Thiebauds Bilder sind wie feinst arrangierte Schnappschüsse. Punkt zwölf Uhr zweiundzwanzig, wenn der Sekundenzeiger sein Minutenziel noch nicht vollends erreicht hat.
Längst hat man gelernt, dass die perfekt inszenierte Präsenz zu den anerkannten Kunstdemonstrationen gehört. Aber man hat schon seine Zeit gebraucht. Als in den fernen Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts die ersten reinlich gemalten Tortenstücke auftauchten und ein paar US-Künstler mit bravourös repetierten Suppendosen, Dollarzeichen, Autoreifen, Magazintitelseiten und monströsen Zahnpastatuben enorm wichtigtaten, erschien solch übermächtiger Einbruch des schlechthin Banalen wie ein Verrat an den letztverbliebenen Grundsätzen des ewig gefährdeten Schönen, Wahren, Guten. Denn bei all den hilflosen Definitionsversuchen bestand doch zumindest darüber Einigkeit, dass Kunst mit dem Außerordentlichen zu tun habe, dem Überlegenen, Nichtalltäglichen, dass sie etwas Bedeutsames sein müsste, dessen Bedeutung nicht schon von den kruden Zwecken erklärt wäre.
So dachte man. Und wer sich an die Zeitkunst der Nachkriegsepoche erinnern kann, der erinnert sich auch an lauter Überlegenheitsgesten über den visuellen Alltag: an die Farbejakulate der Informalisten, an die tiefgründigen Seelenergießungen der Abstraktion, an genagelte Zero-Bilder und Fluxus-Konzerte mit zertrümmerten Pianos. Steilste Überbietungen des belanglosen Lebens. Und nie war die Kunst über die ordinäre Bestimmung der Dinge weiter hinaus. Transzendierung des Gewöhnlichen – unter dem hat es die Kunst ja nie getan. Und blättert man in ihrer Geschichte, dann ist es wie dauernder Triumph des lebensfern anderen. Bis weit hinein in die Fünfzigerjahre, als es noch einmal galt, die grandiose Überlegenheit des Ästhetischen unter Beweis zu stellen – vom abstrakten Expressionismus in den USA bis zur triumphierenden Ungegenständlichkeit in Europa. Was nicht zuletzt den Kalten-Kriegs-Feinden im Osten geschuldet war, die mit ihren pädagogischen Realismen hoffnungslos zurückgeblieben schienen und von der zur Globalkunst aufstrebenden Westkunst gnadenlos abgestraft wurden.
Umso ratloser stand man nun vor den frisch ausgepackten Bildern aus Amerika, auf denen Gegenstände aus der Warenwelt und nichts sonst zu sehen waren. Nichts deutete darauf hin, dass die bunte Sachkunde kritisch gemeint sein könnte. Eher schien der Verdacht berechtigt, dass die neue Gegenständlichkeit als frech-frohe Feier des Konsumismus zu gelten habe. Lässig thronte Warhols Suppendose markentreu im Bild – und schien geradeso heraldisch platziert wie ein veritabler Heiliger des späten Mittelalters. Pop-Art hieß die neue Mode, und die Künstlernamen lernte man rasch. Auch Wayne Thiebaud war unter ihnen. Auf dem damals trendigen Kölner Kunstmarkt sah man da und dort ein Bild von ihm: Kuchenstücke in Reih und Glied. Tüteneis in der Halterung (Schoko und Vanille). Ein Girl with Ice Cream Cone: breitbeiniges Sitzen im Sand, auf Regiezuruf schlotzend. Junges Paar beim Fast-Food-Verzehr auf Barhockern. Flipperautomaten, drei, vier, vielleicht fünf, was nicht so klar ist. Aber klar, dass der spürsinnige Harald Szeemann den Maler in seinem Importprogramm für die documenta 5 des Jahres 1972 hatte. Später hat man nicht mehr so viel gesehen. Bei allen Pop-Art-Übersichten war Thiebaud dabei. Die große europäische Einzelpräsentation des Werks findet erst jetzt in der Basler Fondation Beyeler statt. An Weihnachten vorletzten Jahres war der Künstler im Alter von 101 Jahren gestorben.
So ist die Pop-Art erfolgreich geworden – als runderneuertes Westkunst-Signalement, das nicht bloß einem jugend- oder subkulturellen Lebensgefühl entsprach, sondern den optimistischen Weltentwurf des gesellschaftlich bestimmenden Sozialisationstyps der Sechzigerjahre komfortabel ausstaffieren half. Selbst dort, wo das Pop-Bild seine Gegenstände minderer Güte in womöglich kritischer Absicht zitieren mag, trägt es noch dazu bei, den Kulturen der kapitalistischen Demokratien das insgeheim schlechte Gewissen vor der Warenform ihrer Lebensverhältnisse zu nehmen. Pop-Art war wohl auch deshalb nie eigentlich an den Protestbewegungen der späten Sechzigerjahre beteiligt. Anders als die Woodstock-Folklore schien die in ihrem politischen Charakter oszillierende Pop-Ikone doch die Gegenstände schon wieder ernst zu nehmen, die sie gerade noch dem allgemeinen Spott preisgegeben hatte.
Die Aufregungen von damals sind abgetane Geschichte. Niemand, den heute Zweifel ergriffe, ob es denn wahrhaftig Kunst sein könne, was so gar kein Geheimnis um sich macht. Man spaziert vorbei am Thiebaud’schen Lebenswerk, nickt beifällig der munteren Micky Maus zu und denkt, wahrhaftig, sie hat seit 1988 weder verloren noch gewonnen. Und auf eine Art hat es ja auch etwas Entlastendes, dass man vor perfekt gemalten Farbtöpfen mit Schmierrändern nichts zu entschlüsseln hat. Und im Vergleich zu den mancherlei Rätselaufgaben, die einem die zeitgenössische Kunst zumutet, ist die mentale Bescheidenheit dieser Bilder schon auch eine Wohltat.