Die Neue Nationalgalerie feiert Isa Genzkens 75. Geburtstag – mit einer klugen Schau, die die ganze Vielfältigkeit dieser großen, radikalen Bildhauerin aufzeigt
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18.07.2023
Anfang der Neunzigerjahre eröffnete Isa Genzken eine Wanderausstellung, deren Titel bis heute als Motto für ihr Schaffen stehen kann: „Jeder braucht mindestens ein Fenster.“ So hieß die Schau, die von Chicago über Frankfurt und Brüssel nach München zog. Die Verbundenheit mit dem Außen – die Connection, die sich zwischen Künstlerin und Welt, zwischen Betrachterin und Kunst aufbaut – bestimmt Genzkens Werk. Zum 75. Geburtstag im November überlässt ihr die Neue Nationalgalerie in Berlin daher nicht nur ein Fenster, sondern gleich die rundum verglaste Ausstellungshalle: Für jedes Lebensjahr haben der Direktor Klaus Biesenbach und die Kuratorin Lisa Botti eine von Genzkens Skulpturen ausgewählt und im luftigen Obergeschoss des Mies-van-der-Rohe-Baus zu einem chronologischen Rundgang arrangiert.
So simpel das Konzept von „75/75“ sein mag, so klug ist es: Die Reduktion erlaubt es den Werken, gegen die übermächtige Bauhaus-Architektur zu bestehen, ohne verloren zu wirken. Wie in einer Glyptothek stehen die Arbeiten frei im Raum, weder Texte noch Trennwände lenken von der Präsentation ab. Mit dem Ausstellungsplan in der Hand folgt man dem Parcours durch die Schaffensphasen wie bei einer Schnitzeljagd, angezogen von glitzernden Oberflächen und selbstbewussten Werktiteln wie „Fuck the Bauhaus #1“.
Den Auftakt bildet das „Rote Ellipsoid“ von 1977. Als Genzken die Arbeit, die nur an einem Punkt den Boden berührt, in ihrem Atelier in Düsseldorf entwirft, ist sie 28 Jahre alt. Sie beendet gerade ihr Studium an der Kunstakademie, fühlt sich tief im Diskurs und der rheinländischen Szene verankert und experimentiert mit minimalistischer Formensprache. In dieser Zeit entwickelt sie Skulpturen, die kurz vor dem Abheben stehen – genau wie ihre eigene Karriere. Die lackierten, über zehn Meter langen Holzstäbe erinnern an schwebende Stricknadeln und verkörpern doch mehr als eine optische Spielerei: Sie vereinen den Widerspruch zwischen Technologie und Handwerk in sich, denn Genzken fertigte die Formen auf Basis von exakten Computerberechnungen gemeinsam mit einem Tischler.
Während diese Werke eine Übung im Balancehalten darstellen, ruhen Genzkens „Weltempfänger“ bedeutungsschwer auf ihren Podesten: Die Künstlerin beweist mit diesen rohen Betonklötzen samt aufgesetzter Antennen ihren eigenwilligen Sinn für Humor. Stellte sie einige Jahre zuvor noch einen echten Weltempfänger von Panasonic als Ready-made aus, stieg sie ab den Neunzigerjahren auf die abstrakten Nachahmungen um. „Hauptsache, Musik – ich bin süchtig danach“, sagte sie vor ein paar Jahren in einem Interview. So sind ihre Weltempfänger auch Liebeserklärungen an den Hunger nach Sound und Leben. Kein Wunder, dass manche der Betonradios Menschen gewidmet sind, die ihr viel bedeutet haben. So trägt eine Version von 1990 den Titel „Gerhard“, benannt nach ihrem ersten Ehemann, dem Künstler Gerhard Richter. Der undurchdringlichste aller Baustoffe wird in Genzkens Händen zum Resonanzkörper, der sowohl sendet als auch empfängt – und vor allem Gefühl ausstrahlt. Aus Trümmern kann eine neue Welt entstehen, und die Antennen sorgen für die Verbindung.
Auch Genzken streckt ihre Fühler in alle Richtungen aus. Das Bedürfnis nach Anschluss treibt sie bei der Werkserie „Fenster“ an, die ebenfalls ab den Neunzigerjahren entsteht. Man entdeckt einige ihrer Rahmen aus rohem Beton und gelbem Epoxidharz in der Halle. Die abstrakten Strukturen werden erst durch ihre Position zu Gucklöchern, sie bestimmen Ausschnitte und lenken Blicke.
Isa Genzken ist eine, die alles aufnimmt und aufsaugt. Eine, die die Rollos ganz hochzieht und das Licht hereinlässt. Sie wird mit ihren Werken im Laufe der Jahre mehrfach auf der Documenta in Kassel und den Venedig-Biennalen vertreten sein – 2007 gestaltet sie den deutschen Pavillon. Oftmals bezeichnet man sie als bekannteste Bildhauerin Deutschlands, doch Genzken beherrscht auch Disziplinen wie Fotografie und Film. Ihre Kunst verkauft sich gut, Museen weltweit nehmen sie in ihre Sammlungen auf, Kritiker überschlagen sich mit Lob. Und das, obwohl, oder gerade weil, Genzken auch die Dunkelheit kennt, die das Leben mit sich bringt. Lange kämpfte sie gegen Alkoholismus und Depressionen, verbrachte Zeit in der Psychiatrie. Aktuell ist ihr Gesundheitszustand so schlecht, dass sie die Schau in der Neuen Nationalgalerie nicht persönlich eröffnen konnte.