William Turner schuf im 19. Jahrhundert Landschaftsbilder, die bis heute vieles offenlassen: Sind sie frühe Abstraktionen oder gar Gesellschaftskritik? Das Münchner Lenbachhaus zeigt nun in einer großen Ausstellung die Vielseitigkeit des Romantikers
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23.10.2023
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 219
Aus heutiger Sicht ist die Kritik seiner Zeitgenossen an diesem Meisterwerk schwer zu verstehen. Und ironischerweise ebbte sie auch kurz nach Turners Tod 1851 ab, um sich in rückhaltlosen Enthusiasmus zu verwandeln, nachdem die Impressionisten den Künstler entdeckten. Aber sie hatte Folgen. Dem Vorwurf, das Bild nicht „nach der Natur“ gemalt zu haben, setzte der eigensinnige Rebell mit dem Londoner Cockney-Akzent den wohl längsten Werktitel der europäischen Kunstgeschichte entgegen. Er lautet übersetzt: „Schneesturm – Ein Dampfschiff im flachen Wasser vor einer Hafeneinfahrt gibt Leuchtsignale ab und fährt voran. Der Autor war in diesem Sturm in der Nacht, als die „Ariel“ Harwich verließ.“ 186 Zeichen, 46 mehr als ein Twitter-Tweet bis 2017 hatte. Damit wollte er sagen: Ich war da, und ihr nicht. Dem jungen John Ruskin, der ihn zu dieser Zeit noch nicht für verrückt erklärt hatte, klagte Turner den mangelnden Realitätssinn seiner Kritiker: „Seifenlauge und weiße Tünche! Was wollen die denn eigentlich? Was glauben sie denn, wie das Meer ist? Ich wünschte, sie wären selbst mittendrin gewesen.“
Auch andere Bilder, die in München zu sehen sind, strahlen eine Faszination aus, die sich kaum adäquat beschreiben lässt. Da sind die rätselhaften Aquarelle, Studien von Landschaften, in der Fachwelt auch als „Beginnings“ bekannt, für die der Künstler Farben übereinanderschichtete, um ihren Klang zu erproben. Sie erinnern an Arbeiten des Abstrakten Expressionisten Mark Rothko, was Rothko selbst auch fand und der Tate sein Bild „Untitled“ von 1950/52 schenkte. Tatsächlich sind die formalen Parallelen zu Blättern wie den „Studies of the Moon over the Pyramids and Sunset Clouds over Stonehenge“ (1822) oder einem Gemälde wie „Three Seascapes“ von 1827 ganz verblüffend.
Gerade diese Zeichnungen und Gemälde, und speziell die aus den 1840er-Jahren, wie die Ansichten der Walhalla in Donaustauf, des Luzerner Sees oder aus Venedig, wo es Turner gelang, Licht, Farbe und Luft zu unvergleichlich dichten atmosphärischen Einheiten zu formen – sie haben Bewunderer wie Rothko animiert, den Maler mal mehr, mal weniger ernsthaft als Pionier der abstrakten Kunst zu betrachten. Diese Ansicht teilen die Münchner Kuratoren Karin Althaus und Nicholas Maniu nicht: „Wer in ihm einen protoabstrakten Künstler erkennen möchte“, sagt Althaus, „lässt außer Acht, dass er für seine Bilder immer ein Thema hatte.“
Als interessant empfinden Althaus und Maniu den Umstand, dass man seit der letzten, erst vor Kurzem vollzogenen Umgestaltung des Turner-Flügels in der Tate Britain die Bilder wieder stärker gesellschaftspolitisch interpretiert. „Es ist erstaunlich, wie die Beschäftigung mit seinem Werk immer wieder neue Fragestellungen liefert“, sagt Althaus. „Nehmen Sie die Klimakrise: Auf einmal ist unser Blick dafür geschärft, was Luftverschmutzung für einen Sonnenuntergang bedeuten könnte – genau das hat William Turner gemalt.“
Doch damit ist die stilistische Vielfalt, die man im Schaffen dieses Jahrhundertkünstlers findet, noch lange nicht erschöpft. Amy Concannon, Tate Britain-Kuratorin, betreut die Schau zusammen mit Sam Smiles, Professor der Kunstgeschichte an der Universität von Exeter, von Londoner Seite. In ihrem Text in der Ausstellungsbroschüre weist Concannon darauf hin, dass es in Turners Œuvre so unterschiedliche Arbeiten gibt, „dass man nicht ohne Weiteres darauf käme, sie könnten von ein und demselben Künstler stammen“. Aus Venedig, wo sich Turner sehr gerne aufgehalten hat, stammen Bilder, die ein Traum in Weiß, Gelb und dezentem Rosa sind. Auf ihnen ist kaum etwas anderes zu erkennen als der Dunst der Lagune in hochkonzentrierter Form. Aber es werden in München auch Gemälde gezeigt wie „Bridge of Sighs, Ducal Palace and Custom-House“ von 1834, das genauso gut ein Canaletto sein könnte – der italienische Maler ist sogar unten links im Bild dargestellt. Oder „Moonlight, a Study at Millbank“ von 1797: Caspar David Friedrich in Reinkultur.
Turner hat den Abgang einer Lawine in den Graubündner Alpen gemalt und, im extremen Querformat, die in den Abendhimmel ragenden Baumwipfel im Park von Guildford Castle. Im Kunstbau werden mysteriöse, beinahe gegenstandslose Bildschöpfungen präsentiert wie „The Fall of Anarchy“ oder „The Long Cellar at Petworth“. Und ein paar Meter weiter steht man vor einem wunderschönen, romantischen, ortlosen Sonnenuntergang, dem „Sunset“. All diese Bilder stammen aus derselben Zeit, aus den Jahren zwischen 1830 und 1835. Es gibt in der Ausstellung Seestücke und Landschaften, bei denen man versucht ist, sie fast konventionell zu nennen, wie „Van Tromp Returning after the Battle off the Dogger Bank“ von 1833 und „Grenoble Seen from the River Drac with Mont Blanc in the Distance“ von 1802.
Und dann sind da die beglückenden, einem den Kopf verdrehenden Lehrzeichnungen, die Turner für die Vorlesung zur korrekten Anwendung der Perspektive an der Royal Academy, die er von 1811 an siebzehn Jahre lang hielt, anfertigte. Diese Zeichnungen sehen aus wie frühe Kandinskys oder Entwürfe zu Plastiken der Konstruktivisten aus den 1920ern. Sam Smiles bringt die erstaunliche Bandbreite dieses Malers auf den Punkt: „There is a Turner for everyone.“ Was etwas unelegant übersetzt, bedeutet: Für jeden Geschmack gibt es einen Turner! Jede Generation, die Impressionisten und die Pointillisten, die Wegbereiter der Abstraktion, die Informellen, die abstrakten Expressionisten und die Menschen von heute – alle erkennen in ihm den Künstler, den sie in ihm gerade am liebsten sehen wollen. Karin Althaus erklärt sich das so: „Er war sehr belesen und hat sich einfach mit allem intensiv beschäftigt. Die Stilvielfalt ist Ausdruck der Vielfalt seiner Interessen.“ There is a Turner for everyone. Sehr wahrscheinlich, dass sich daran auch in Zukunft nichts ändert.
„Turner – Three Horizons“,
Lenbachhaus, Kunstbau am Königsplatz,
28. Oktober bis 10. März 2024