Aus dem Archiv

Der befreite Blick

Amedeo Modiglianis Gemälde feiern die unabhängige, moderne Frau, die Geschlechterrollen hinterfragt. Dies macht die große Ausstellung in Stuttgart so aktuell

Von Christa Sigg
22.11.2023
/ Erschienen in Magazin Nr. 220

Das kann kein Zufall sein: Stiegen fast all diese Frauen aus ihren Bilderrahmen, so fügten sie sich nahtlos in die Gegenwart. Nicht einmal die Kleider müssten sie wechseln, geschweige denn zum Friseur. Mit ihrem lässig schlichten Unisex-Look und den kurzen Haaren machten sie überall eine gute Figur: im Café, auf dem Rennrad und selbstbewusst beim Vorstellungsgespräch.

Hundert Jahre ist es her, dass Amedeo Modigliani diese androgynen Amazonen porträtiert hat, doch sie kommen einfach nicht aus der Mode. Unter den namentlich bekannten Modellen aus seinem Pariser Umfeld erinnert die Malergefährtin Rachel Osterlind mit ihrem schwarzen Locken-Bob an Maria Schrader, den Bubikopf oder Boy-Cut der Buchhändlerin Elena Povolozky tragen Isabella Rossellini wie Anne Hathaway, und so könnte man diese Vergleiche lange weitertreiben. Modigliani bringt ein neues Frauenbild auf die Leinwand. Damit ist dieser Künstler zwar nicht allein, aber er nimmt etwas vorweg, das erst in den Jahren nach seinem frühen Tod 1920 beginnt, richtig en vogue zu werden – und das in einer Konsequenz, die dann doch überrascht. Das ist die erste Erkenntnis eines umfassenden Ausstellungsprojekts der Staatsgalerie Stuttgart und des Museum Barberini in Potsdam mit dem vielsagenden Titel „Moderne Blicke“. Für eine solche Neubetrachtung muss man sich bei diesem Œuvre von den allzu geläufigen Klischees entfernen, das heißt, vom ewig berauschten Alkoholiker, der sich in staksig-stumme Stereotypen flüchtet, vom selbstverliebten Frauenhelden, dem jede Kontrolle abgeht, und bis zu einem gewissen Grad auch von der Übermacht des Montmartre und bald des Montparnasse.

Dem innovativen Treiben in Paris konnte sich kein künstlerisch ambitionierter Geist entziehen, die Strahlkraft der Heroen von Matisse bis Picasso war beträchtlich. Doch gerade der aus Italien eingewanderte Modigliani bringt auch einiges mit, das er nie ganz beiseitelegt und dem er eine erstaunliche Offenheit verdankt. Im jüdischen Elternhaus in Livorno werden Bildung und Weltläufigkeit gepflegt. Dass das Familienunternehmen kurz vor Amedeos Geburt 1884 bankrottgeht, zwingt seine französische Mutter, als Privatlehrerin und Übersetzerin – etwa der Werke Gabriele D’Annunzios – den Lebensunterhalt zu verdienen. Modigliani wächst im Dunstkreis intellektueller Frauen auf, die literaturaffine Tante versorgt ihn mit Büchern, er schwärmt für die Gedichte Dantes und taucht mit dem kunstbegeisterten Großvater in die Welt der Museen ein.

Dass er früh schon Maler werden will, kommt nicht von ungefähr. Doch vom 14. Lebensjahr an schränken ihn eine Typhus-Infektion und in der Folge eine schwere Lungenerkrankung kontinuierlich ein. Statt zur Schule zu gehen, nimmt der von allen „Dedo“ Genannte Zeichenunterricht, verbringt eine Zeit bei den künstlerisch sehr erfolgreichen Cousinen in Rom, um sich schließlich beim Studium der Malerei in Florenz und Venedig intensiv mit der Renaissance auseinanderzusetzen. Er kennt alles, begegnet auf den Biennalen dem Symbolismus und Impressionismus und entdeckt die Skulpturen Auguste Rodins. Das ist das Gepäck, mit dem Modigliani 1906 in Paris eintrifft und unmittelbar ins Zentrum der Avantgarde gespült wird. Er wohnt ganz in der Nähe des „Bateau-Lavoir“, dem heruntergekommenen Ateliergebäude, in dem sich Picasso zu dieser Zeit das Porträt seiner amerikanischen Mäzenin Gertrude Stein in endlosen Sitzungen abringt und dann bald mit den „Demoiselles d’Avignon“ auch gleich die Sensation ausbrütet, mit der die Kunst eine radikale Wendung nimmt.

Amedeo Modigliani
Jungenhaft wirken Bubikopf und Krawatte auf dem Bildnis „Mädchen mit einer gestreiften Bluse“ aus dem Jahr 1917 © Nahmad Collection

Modigliani verfolgt das alles und orientiert sich eine Weile an Picassos Blauer Periode. Offenkundig wird das beim Bildnis der blau dominierten „Jüdin“ mit schmalem Gesicht und beim herben „Akt mit Hut“, auf dessen Rückseite die augenfällig morphiumsüchtige Freundin Maud Abrantès porträtiert ist. Diese Boheme fasziniert ihn, überhaupt das Nachtleben mit seinen verruchten Gestalten und die Aussicht auf ein Abenteuer. Aber mit Anfang 20 ist der junge Mann in jeder Hinsicht auf der Suche. Das zeigt auch die Bekanntschaft mit dem rumänischstämmigen Constantin Brâncuşi, durch den sich Modigliani nach den Versuchen in Italien erneut der Bildhauerei zuwendet. Er beginnt, mit geometrischen Formen zu experimentieren, lässt sich wie die meisten Avantgardisten von den Skulpturen früher und außereuropäischer Kulturen inspirieren.

Bei Modigliani bedeutet das, die Hälse werden länger, die Köpfe oval, das Gesicht reliefhaft flach. Es entsteht eine Reihe von Karyatiden, freilich ohne stützende Funktion, und man erkennt in den mehr und mehr ins Androgyne tendierenden Kalksandsteinarbeiten samt entsprechenden Zeichnungen die Vorboten seiner umwerfend modernen Porträts: etwa der „Kopf einer jungen Frau“, konkret der Schriftstellerin Beatrice Hastings, mit der er über zwei Jahre ein turbulentes On-off-Verhältnis durchlebt. Oder Chaim Soutine, sein enger Malerfreund, der fast jungenhaft frech aus pupillenlos dunklen Mandelaugen blickt.

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