Amedeo Modiglianis Gemälde feiern die unabhängige, moderne Frau, die Geschlechterrollen hinterfragt. Dies macht die große Ausstellung in Stuttgart so aktuell
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22.11.2023
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Erschienen in
Magazin Nr. 220
Dass in dieser Ausstellung nicht nur das französische Umfeld in Beziehung gebracht wird, hat gerade bei den Karyatiden Sinn. Die Parallelen zu den überlängten Figuren Wilhelm Lehmbrucks sind verblüffend, besonders in der Konfrontation von dessen 1913/14 geschaffenem Torso eines „Mädchens“, das sich umwendet, und der zwei Jahre jüngeren „Karyatide“, die Modigliani in Öl ausgeführt hat. Ein erhellendes Nebeneinander der beiden Künstler gab es 1965 in einer Schau im Lehmbruck Museum in Duisburg: Ein Guss der berühmten „Knienden“ des deutschen Bildhauers wurde Modiglianis „Frau mit blauen Augen“ gegenübergestellt, und dabei blieb es dann auch. Doch die Übereinstimmungen sind deutlich, zumal bei Modiglianis Gemälden und vornehmlich den späten. Das ist im Aufsatz von Nathalie Lachmann, neben Christiane Lange, Ortrud Westheider und Jens-Henning Ullner die vierte Kuratorin, anschaulich beschrieben. Es gibt noch andere Vergleiche mit Künstlern aus dem deutschen Sprachraum, das relativiert und fördert beachtliche Analogien zutage. Da wären die Kinderbilder von Paula Modersohn-Becker und Egon Schiele, die von einem seltsam erwachsenen Ernst erzählen und durch Posen auffallen, die eher an Großeltern erinnern. Im Schoß gefaltete Hände zum Beispiel, wie am Ende eines arbeitsreichen Lebens.
Mehr noch sind es die Aktdarstellungen, die verwandte Phänomene offenbaren. Schieles kauernde Körper und die gebogenen Silhouetten trifft man genauso bei Modigliani und Lehmbruck an, zudem Verdrehungen und eine Selbstvergessenheit, die bei Schiele schnell ins Traumhaft-Traumatische gleitet. Modigliani schwelgt dagegen in einem Klassizismus, der weit zurückgreift, auf die Neue Sachlichkeit vorausweist und doch ein singulär elegantes Konstrukt ist. Dass seine Gesichter und Körper bis heute frappierend unverbraucht wirken und auf dem Kunstmarkt astronomische Preise erzielen, hat mit dieser Überzeitlichkeit zu tun.
Interessanterweise ist es die erste öffentliche Präsentation von Picassos »Demoiselles« im Jahr 1916, die Modigliani zu einer Serie von Akten anregt, man könnte auch sagen, ihm eine Antwort abringt. Das Geometrisieren mag zeitweise in eine ähnliche Richtung gedeutet haben, aber ihn reizt weder die Dekonstruktion der Figur, noch das Leiden der Kreatur. Modigliani ist vielleicht der einzige namhafte Moderne, der sich ohne Umschweife auf die Renaissancemalerei bezieht und die Chuzpe besitzt, sich an Tizian zu messen, wie Ortrud Westheider betont.
Auf ein unschuldsweißes Tuch drapiert mustert dessen »Venus von Urbino« ihren Betrachter mit dezenter, ja keuscher Neugier. Modiglianis „Liegender Frauenakt auf weißem Kissen“ von 1917 tut das mit verträumtem Schlafzimmerblick, doch nicht weniger direkt. Und fern jeder Anspielung auf die Mythologie geht es nur mehr um die Nacktheit. Dabei wählt er einen harten Schnitt wie vor ihm schon Modersohn-Becker: Der Akt ist eingekeilt in einen Rahmen, der das Entscheidende noch einmal konzentriert wie im Zoom. Eine Olympia in Nahsicht sozusagen, ohne ablenkendes Drumherum. Und bei Édouard Manet schaut eine Kokotte auf ihren Freier, respektive die Gesellschaft.
Auch solche Bezüge haben Modigliani den Ruf eingebracht, er hätte Prostituierte gemalt, die sich in misslicher Abhängigkeit befanden. Befördert wurden diese nie bestätigten Umstände durch seinen späteren Biografen André Salmon, der einen gewalttätigen Künstler zeichnet, dessen Malerei „überhaupt nichts“ sei und der das „Geschenk des Genies den Dämonen der Drogen zu verdanken“ habe. Das ist der Stoff, der bis heute durch die Köpfe geistert. Deshalb wurde letztlich eine Ausstellung zum Skandal stilisiert, der keiner war. Die Rede ist von der einzigen Soloschau zu Lebzeiten in der Galerie von Berthe Weill, übrigens der ersten Frau, die die künstlerische Avantgarde vertrat und auch Malerinnen wie Émile Charmy oder Suzanne Valadon gefördert hat.
Der Aufreger? Die 1917 an der Rue Taitbout gezeigten Akte riefen den Chef der benachbarten Polizeiwache auf den Plan. Die Rundungen, das dem Betrachter zugewandte Becken, die Hüften, der Blick – all das scheint die Ordnungshüter nicht so sehr in Rage gebracht zu haben wie die Schambehaarung, die auf den glatten Körpern umso mehr ins Auge stach. Die Ausstellung wurde nicht geschlossen, wie unverdrossen behauptet, allerdings unter der Bedingung, die durchs Schaufenster sichtbare »Nackte« müsse entfernt werden. So kolportiert es die Galeristin, die der Polizei zuvorkommt und die beanstandeten Bilder selbst abhängt.
Weibliches Schamhaar war nach wie vor ein Tabu, während Männerakte seit der Renaissance mit allem bestückt sein durften, was die Natur vorsah. Gustave Courbets „L’Origine du monde“ von 1866, der obszöne Aufreger schlechthin, konnte nur für den privaten Kunstkitzel bestimmt sein. Sich männlicher „Vorrechte“ zu bedienen war sowieso nicht gerne gesehen. Das fing beim Wahlrecht an und endete mit den Hosen. Frauen, die sich wie Männer anzogen, standen für Aufmüpfigkeit und Emanzipation. Die kurzen Haare taten ein Übriges. Doch genau so porträtiert Modigliani Freundinnen und anonyme Modelle bereits während des Ersten Weltkriegs: die grazile Louise, deren überlanger Hals aus einem Matrosenkragen emporragt, und die eingangs erwähnte Elena Povolozky in Anzug und Fliege. Renée, die Frau seines engen Künstlerfreunds Moïse Kisling malt er gleich zweimal im Garçonne-Look mit Krawatte und Pagenschnitt.
Modigliani schätzt unabhängige Frauen, durchstreift mit der Dichterin Anna Achmatowa den Louvre und leiht der Malerin Nina Hamnett eine Hose, damit sie sich als „Apache“ ins nächtliche Tanzvergnügen stürzen kann – mit einer Frau. Ihr Freund Ossip Zadkine nimmt die bisexuellen Affären hin und zeigt sich solidarisch mit Bob. Genauso bewegt sich Modigliani in der Modeszene um Paul Poiret, der Pluderhosen für Sarah Bernhardt schneidert und seine Kreationen 1908 von Modellen mit kurzem Haar vorführen lässt.
Nur Jeanne Hébuterne trägt das Haar lang oder zu einem eigentümlichen Turm frisiert, der an Bildnisse der Manieristen oder das Rokoko erinnert. So hat sich die Malerin selbst dargestellt, und Modigliani porträtiert seine große Liebe und Mutter der gemeinsamen Tochter mehr als zwanzig Mal. Sein ganzes Repertoire spielt er durch und findet 1919 zu einer besonders eindringlichen Komposition. Jeannes kastanienbraunes Haar schmiegt sich wie ein Madonnenschleier um ihr Gesicht, die türkisblauen Augen blicken ins Leere, der gelbe Rollkragenpullover wölbt sich unter der Brust. Als Modigliani am 24. Januar 1920 an den Folgen einer tuberkulösen Meningitis mit nur 35 Jahren stirbt, springt sie zwei Tage später aus dem Fenster in den Tod. Im achten Monat schwanger. Das tragische Ende liegt wie ein unheimlicher Schatten über Modiglianis Werk und seiner Rezeption. Dabei waren die Farben am Schluss heller geworden, freundlicher. Die Frauen und Mädchen auf seinen Bildern erzählen ohnehin eine andere Geschichte. Nicht nur von einer unkonventionellen Weiblichkeit, sondern auch von einem Künstler, der sensibel genug war, diese Frauen und ihren Wunsch nach freier Entfaltung ernst zu nehmen.
„Modigliani. Moderne Blicke“,
24. November bis 17. März;
27. April bis 18. August