Vor 1300 Jahren entstand das Kloster auf der Reichenau im Bodensee, das zum weit ausstrahlenden Zentrum der Geistes- und Buchkultur aufstieg. Eine große Ausstellung in Konstanz erinnert nun an die Blütezeit im Mittelalter
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24.06.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 227
Es gab Zeiten, da war die Reichenau die klügste Insel Europas. Bis zum Aufschwung der ersten Universitäten im 12. Jahrhundert unterhielten die Klöster die Wissensspeicher, die Lehr- und Forschungsstätten, die Zentren der Buchkultur, wo sich die prägenden Intellektuellen der Zeit versammelten. Walahfrid Strabo war einer von ihnen. Schon mit 18 Jahren, das war um 825, schrieb er in eleganten lateinischen Versen die „Visio Wettini“. Damit begründete er eine literarisch fesselnde Jenseitsdichtung, die ein halbes Jahrtausend später in Dantes „Göttlicher Komödie“ gipfeln sollte.
Walahfrid schrieb noch andere Meisterwerke, und neuerdings entdeckte man seine Handschrift auch auf dem berühmten Klosterplan, den der Reichenauer Bibliothekar als Entscheidungshilfe nach St. Gallen schickte, wo ein Neubau anstand. Zehn Jahre lang war Walahfrid in Aachen als Hofpoet der Karolinger tätig. Zum Dank verlieh ihm Kaiser Ludwig der Fromme die Abtswürde in seiner Heimatabtei Reichenau. In einem Brief an den Papst schwärmte Walahfrid von der Klosterinsel im Bodensee: „Der Rheinstrom, von den östlichen Alpen in großem Bogen westwärts flutend, umspült diese Stätte mit dem Wellenschlag eines Meeres. Er trägt in der Mitte eine Insel, von den Bewohnern Alemanniens Augia genannt, die im Schmuck ihrer neuen Bauten prangt.“
Die „Augia dives“, die „Reiche Au“, wenige Kilometer westlich von Konstanz gelegen, bevor sich der Untersee langsam zum Hochrhein Richtung Schaffhausen und Basel verengt, feiert in diesem Jahr ihr 1300-jähriges Bestehen. Das Eiland und die Abtei wurden nach ihrer Gründung 724 rasch zur Einheit. Wer Reichenau sagte, meinte beides, Insel und Kloster. Das ist heute noch so, zwei Jahrhunderte nach der Aufhebung des Konvents während der Säkularisation von 1803.
Das Badische Landesmuseum in Karlsruhe nimmt das 1300-jährige Bestehen zum Anlass, eine große Ausstellung zur Geschichte und Kunst des Inselklosters auszurichten. Es ist eine sensationelle Schau, die vor allem durch die vielen Handschriften des 9. bis 11. Jahrhunderts begeistert, die auf der Reichenau entstanden und jetzt aus Bibliotheken in ganz Europa erstmals zurückkommen. Aber auch bedeutende Goldschmiedewerke, Elfenbeinreliefs oder Architekturfragmente, historische Ansichten und Alltagsobjekte sind zu sehen. Für Freunde mittelalterlicher Kunst ist es das Ereignis des Jahres. Eine der besten Entscheidungen der Organisationsteams war, das Ganze am Ort des historischen Geschehens stattfinden zu lassen. Im Archäologischen Landesmuseum in Konstanz ist die Ausstellung gut aufgehoben, und von hier aus sind es nur ein paar Kilometer bis auf die Reichenau. Den Besuch dort sollte man unbedingt einplanen, um zu verstehen, wie alles zusammenhängt.
Um dem mittelalterlichen Weg zur Insel zu folgen, kann man mit einer kleinen Fähre von Allensbach direkt nach Mittelzell übersetzen, während es sich über den Damm, der in den 1830er-Jahren aufgeschüttet wurde, bequem im Auto oder Bus bis zu den Kirchen fahren lässt. Mittelzell ist das Zentrum der Insel, hier steht die ehemalige Klosterkirche, Maria und Markus geweiht und meist Münster genannt. Die Gründung durch den später heiliggesprochenen Wandermönch Pirmin im Jahr 724 ist nicht durch zeitgenössische Quellen abgesichert, sondern erstmals hundert Jahre später in Walahfrid Strabos Chronik genannt. Aber die frühesten Klosterbauten, die man beim Münster ergraben konnte, waren aus Holz und ließen sich dendrochronologisch datieren: Sie bestätigen ungefähr das seit Walahfrid immer wieder überlieferte Gründungsjahr.
Das Kloster begann nach seiner Entstehung bald zu florieren und erfreute sich guter Beziehungen zu Karl dem Großen, der es zur Reichsabtei erhob. Abt Waldo war ein Vertrauter des Kaisers, unter seiner Leitung stieg die Reichenau nach 800 zu einem wichtigen Kultur- und Geisteszentrum im karolingischen Imperium auf. Mittlerweile lebten rund 100 Mönche hier, und besonders das Skriptorium gedieh, wo zahlreiche Bücher für die Bibliothek oder externe Auftraggeber abgeschrieben wurden. Die Schriftkultur und das geistige Niveau wird in der Ausstellung sehr anschaulich, bis hin zu einem Schulheft, das ein irischer Mönch bei seinem Studium im Kloster führte. Die Schau zelebriert nicht nur die Bilderhandschriften der Reichenau, sondern bringt auch die Texte nahe. So lässt sich verfolgen, wie in den Manuskripten der Frühzeit noch die irische und schottische Schrift dominierte, die Missionsmönche von den Britischen Inseln verbreitet hatten, bevor sich immer mehr die karolingische Minuskel durchsetzte.
Man kann die Mönche nur bewundern, wie sie ihr Leben lang, Buchstaben für Buchstaben und mit kalligrafischer Klarheit, die heiligen Bücher, aber auch gelehrte antike Schriften kopierten, damit diese in Europa zirkulieren konnten. Auch die Ordensregel des heiligen Benedikt, die Karl der Große und vor allem sein Nachfolger Ludwig der Fromme allen Klöstern des Reichs verordneten, hätte sich ohne diesen Buchtransfer nicht durchsetzen können. Die Stiftsbibliothek in St. Gallen – Nachbarkloster am Bodensee, mal Freund, mal Rivale der Reichenau – hat viele Handschriftenschätze ausgeliehen, darunter die älteste vollständig erhaltene Benediktsregel, auch sie ein Meisterwerk der Schriftkunst. Nur der St. Galler Klosterplan konnte nicht im Original anreisen; er ist eines der wenigen Exponate in Kopie.
Die Mönche hatten ein Gespür für den Seitenaufbau und ein gelungenes grafisches Gesamtbild. Das liegt auch daran, dass die Bücher Luxusobjekte waren, allein schon wegen der vielen Kalbs- oder Schafshäute, die man für das Pergament brauchte. Für den sechsbändigen Kommentar zum Buch Hiob, den Bischof Egino von Verona 799 aus Italien mitbrachte, als er sich für seine letzten Lebensjahre auf die Reichenau zurückzog, mussten rund 750 Tiere ihr Leben lassen.