Vor 1300 Jahren entstand das Kloster auf der Reichenau im Bodensee, das zum weit ausstrahlenden Zentrum der Geistes- und Buchkultur aufstieg. Eine große Ausstellung in Konstanz erinnert nun an die Blütezeit im Mittelalter
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24.06.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 227
Egino ließ sich für seinen Alterssitz in Niederzell an der Westspitze der Insel eine Kirche errichten, die zwei Jahrhunderte später dem heute noch erhaltenen romanischen Bau wich. Vom Anspruch des ersten karolingischen Gotteshauses zeugt eine italienisch beeinflusste, mit Flechtbändern verzierte Chorschrankenplatte, der die Ausstellung ein verblüffend ähnliches Exemplar aus Venedig zur Seite stellen kann.
Auch das Münster in Mittelzell wurde nach 800 neu und größer errichtet. Bauherr war Abt Heito, wie sein Vorgänger Waldo ein enger Vertrauter Karls des Großen, für den er sogar in diplomatischer Mission nach Byzanz reiste. In den Ostteilen des heutigen Münsters sind größere Partien von Heitos Bau erhalten. Geprägt wird die Kirche aber von dem Westquerhaus des frühen 11. Jahrhunderts mit seinen weiten, rot-gelb gestreiften Rundbögen. Es ist ein typisch frühromanischer Raumeindruck, mit geometrischer Perfektion entwickelt, zugleich von ursprünglicher Archaik.
In dieser Zeit lebte der Universalgelehrte Hermann auf der Reichenau. Er war zeitlebens gelähmt und konnte nur schwer sprechen, offenbar litt er unter derselben Krankheit wie Stephen Hawking. Neben der Geschichtsschreibung widmete er sich der Astronomie, erneuerte die Zeitrechnung, dichtete und komponierte – einer der bedeutendsten Intellektuellen des Mittelalters. Als Hermann 1054 starb, neigte sich die zweite große Blüte des Klosters ihrem Ende zu. Wie unter den Karolingern profitierte die Reichenau auch im 10. Jahrhundert von guten Beziehungen zu den Kaisern aus der Dynastie der sächsischen Liudolfinger, besser bekannt als Ottonen wegen der drei gleichnamigen Herrscher.
Künstlerisch äußerte sich der zweite Aufschwung in der Buchmalerei. Um 970/80 erneuerte sich diese Kunstform; die Bibelhandschriften, in denen zuvor oft nur den Evangelisten ganzseitige Farbbilder gewidmet waren, enthielten nun erzählende Bilderfolgen. Die Reichenau setzte sich an die Spitze der Bewegung, nirgendwo sonst entstanden so viele gemalte Erzählungen aus dem Leben Jesu. Die Nachfrage bei anderen Klöstern, bei Bischöfen bis hin zum Kaiserhaus war groß. Mit ihren begehrten Luxusbüchern betrieb die Abtei Politik und stärkte ihre Stellung im Reich.
Der neue Stil manifestierte sich von Beginn an in höchster Pracht und Qualität. So erscheint im Petershausener Sakramentar die Ecclesia als gekrönte Himmelskönigin, gekleidet in byzantinischem Herrschaftsornat, die Gesichtszüge mit wenigen Linien erfasst, kein Menschenbild, sondern stilisierte Überhöhung, zugleich aber sehr expressiv. Alle Details hier sind kostbar gestaltet: das Gewand, die goldenen Bordüren und die kreisrunde Einfassung aus goldschmiedeartiger Ornamentik.
Eine Besonderheit der Buchmalerei auf der Reichenau ist, dass sich die schreibenden und malenden Mönche in prominenten Widmungsbildern beim Überreichen der Bücher darstellten und dabei meist auch ihre Namen verewigten. Im Gero-Kodex ist es Anno, im Hornbacher Sakramentar ist es Bruder Eburnant, im Egbert-Psalter übergibt Ruotprecht seine Schöpfung an den Trierer Erzbischof. Berühmt ist vor allem die Dedikationsseite im Evangeliar aus der Aachener Domschatzkammer, wo der Künstlermönch Liuthar in einem exzentrisch-geometrischen Layout Kaiser Otto III. auf der gegenüberliegenden Buchseite begegnet.
Alle diese Handschriften und noch eine ganze Parade mehr kann die Konstanzer Ausstellung aufbieten. Nur der Freistaat Bayern, der mit der „Bamberger Apokalypse“, dem Evangeliar Ottos III. oder dem Evangelistar Heinrichs II. die bedeutendsten Werke der „Liuthar-Gruppe“ besitzt, mochte nichts ausleihen. Für die Ausstellungsmacher war das bitter, aber trotzdem lassen sich die künstlerischen Phasen und Höhepunkte sehr gut nachvollziehen: von der archaisch anmutenden Präzision der „Anno-Eburnant-Gruppe“ über die Riesenaugen und die kurvierten Gewandfalten der „Ruotprecht-Gruppe“ bis zum „Liuthar-Stil“, der mit seinen weichen Gesichtern, den mandelförmigen Augen, der berührenden Interaktion der biblischen Figuren, der noch farbfreudigeren Palette und den neuartigen Goldhintergründen von 990/1000 bis um 1050 prägend blieb.
Aus konservatorischen Gründen müssen einige der Handschriften früher abreisen, andere kommen erst zur Halbzeit. Das schmälert aber den Gewinn der Ausstellung keineswegs, die zudem über die Kunst- und Geistesgeschichte der Reichenau weit ausgreift, sie einbettet in die Entstehung der Klosterlandschaft rund um den Bodensee, die Rolle der Heiligenreliquien, der Liturgie oder der Musik beleuchtet, mit Originalwerkzeugen die Arbeit im Skriptorium erläutert und schließlich den Niedergang des Klosters im Spätmittelalter bis zur Übernahme und Degradierung durch den Konstanzer Bischof 1540 wie die vergeblichen Wiederbelebungsversuche im Barock nicht ausspart. Das ist viel Stoff, aber er ist anschaulich und verständlich dargestellt.
Niemand sollte die Insel verlassen, ohne zuvor St. Georg in Oberzell aus dem 10. Jahrhundert zu besuchen. Auf dem Bilderzyklus im Langhaus ist die Reichenauer Malerei im Monumentalformat zu erleben. Ein einzigartiges Gesamtkunstwerk, das seit 2000 ebenso zum Unesco-Welterbe gehört wie die ganze Klosterinsel.
Heute lebt die Reichenau vom Gemüseanbau, der mit seinen Treibhäusern allgegenwärtig ist. Doch immer noch haben die Insulaner eine enge Bindung zu ihrer Geschichte. So versammeln sie sich am Markus-Tag oder zum Heilig-Blut-Fest und folgen der Prozession, bei der die goldenen Schreine und Reliquiare aus der Schatzkammer des Münsters wie im Mittelalter durch den Ort getragen werden. Und drei Mönche leben auch wieder auf der Insel.
„Welterbe des Mittelalters. 1300 Jahre Klosterinsel Reichenau“,
Archäologisches Landesmuseum Baden-Württemberg, Konstanz,
bis 20. Oktober