Bei Vilhelm Hammershøi berühren sich Zeit und Ewigkeit: Seine privaten Interieurs werden so zu Spiegelbildern der ganzen Welt. Eine Ausstellung in der neuen Galerie Hauser & Wirth in Basel zeigt jetzt unbekannte Meisterwerke des großen dänischen Malers
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12.06.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 227
Die Gestalten bei Hammershøi sind fast immer weiblich, und fast immer ist ein und dieselbe Frau sein Modell: Ida, seine Gattin, die er früh heiratete und die er in unzähligen Gemälden von hinten in ihrer gemeinsamen Wohnung porträtiert hat. Sie trägt den Idealkörper des Quattrocento wie einen Schleier um sich und erinnert an die feierlichen Figuren eines Masolino oder Perugino. Aber natürlich sind es auch Vermeers Frauen und vor allem Caspar David Friedrichs Bild seiner Ehefrau Caroline, die berühmte, ebenfalls von hinten gemalte „Frau am Fenster“ (1822), die Hammershøi früh kennenlernte und die ihn lebenslang prägen wird.
Immer wieder sehen wir Ida in den Bildern: Sie steht versonnen mit einer Schüssel unter dem Arm, sie liest eine Zeitung, sie steht vor einem Klavier. Sie traumwandelt durch die Räume der gemeinsamen Wohnung. Ist sie verloren? Ist sie versonnen? Ist sie glücklich? Ist sie lebensmüde? Wir wissen es nicht. Alle Gemälde Idas wirken wie Standbilder aus einem unendlichen Film ohne Handlung. Hammershøi wirft durch das Biedermeier-Mobiliar sowie die schlichte Kleidung seine Frau in die Welt der 1840er-Jahre zurück. Was macht sie da? Nichts wird erklärt, nichts erzählt, alles ist opak. Wenn Ida ans Klavier tritt, dann spielt sie nicht, wenn sie an einem Tisch steht, dann berührt sie nicht ihre Tasse. Es gibt keine Handlung. Es gibt nur die Möglichkeit einer Handlung. Es lässt sich ahnen, dass in ihren Gedanken die Möglichkeit langsam zu einer Unmöglichkeit wird.
Dieses Sichtbarmachen der seelischen Innenwelt verbindet Hoppers Gemälde mit denen von Hammershøi. Auch Hopper hatte nur ein einziges Modell, seine Ehefrau, Josephine, auch hier ist es ein jahrzehntelanges Kreisen eines Paares um sich selbst, das zu einer Malerei führt, bei der die Intimität immer wieder in Klaustrophobie umzuschlagen droht. Denn auch bei Hopper gibt es eine große Vorliebe für den Innenraum und den Schutz vor den Bedrohungen der Außenwelt, den er der dargestellten Ehefrau bietet. Nur das Licht darf in diese abgeschottete Welt hineinfallen. Hoppers Frau sitzt auf dem Bett, auf dem Sofa, an der Bar, die Welt ist moderner geworden, doch die Gedanken nicht. Wer bin ich? Was ist meine Rolle in dieser Welt? Warum sollte ich je wieder vor die Tür gehen? Ist Isolation nicht auch eine Rettung? Die tiefe Melancholie dieser ewigen Fragen weht vom alten Europa Hammershøis direkt hinüber in die Neue Welt Hoppers.
Hammershøi scheint die ganze Welt in seinen Räumen aufgehoben zu haben. Wie in Gefäßen sind in seinen Bildern die Wünsche und die Ängste seiner Frau und seiner Zeit gestaut. Es ist eine völlige Absage an die klassische Erzählstruktur. Genau deshalb kann die Bildstruktur bei ihm, also der Raum und der Mensch darin, als die ewiggültige Ideologie der Malerei hervortreten. So wie es der deutsche Dichter Rainer Maria Rilke beschrieb, als er Hammershøi und seine Kunst persönlich kennengelernt hatte: „Sein Werk ist lang und langsam und in welchem Augenblick man es auch erfassen mag, es wird immer voller Anlass sein, vom Wichtigen und Wesentlichen in der Kunst zu sprechen.“
Die dezente Palette Hammershøis passt sich seiner dezenten Umgebung an. Die weißen Türen und Fenster, die grauen Wände und Decken, das warme Honigbraun der Biedermeier- und Empiremöbel. Das sind seine Farben, mehr braucht er nicht. Wenn er raus blickt auf die Stadt, dann benötigt er nur das Grau und die Milchigkeit eines getupften Weiß. Ein herrliches Silbergrau und darüber immer wieder die zarten Töne wie pulvriger Schnee. Und wenn er hinausgeht in die Natur, dann kommt ein verschwommenes, fahles Grün hinzu, wie kurz vorm Verdämmern. Das ist alles.
Eigentlich ist seine Farbwelt aber ein Universum in Grau. Als der dänische Maler Peter Skovgaard einmal einen Blick auf Hammershøis Palette werfen durfte, war er hingerissen von dessen Limitationen: „Da lagen vier weiße und graue Farben, die so genau miteinander vermalt waren, als lägen vier Austernschalen auf seiner Palette.“ Aus diesen Austernschalen entwarf Hammershøi dann die Perlen seiner Kunst.
Die pudrig getupfte Farbe auf seinen Leinwänden wird rhythmisiert durch das Licht. Es ist der geheime Regisseur jedes seiner Bilder. Dieses irritierend diffuse Licht, das die Räume seiner Wohnung durch eine unterschiedliche Tageszeit, einen anderen Einfallswinkel oder eine verschattende Wolke immer in neue Bilder verwandeln konnte. Gerade dieses Spiel mit der verwandelnden Kraft des Lichts strahlt auch hinüber in die amerikanische Moderne, zu Hopper, aber eben auch zu Andrew Wyeth. „Ist da eigentlich“, so fragte die New York Times schon 1998 in völliger Überraschung, „irgendein Unterschied zwischen Hammershøis dänischen Wohnungen und den weißen Häusern von Wyeth, erhellt vom fahlen Winterlicht? Beide Künstler haben einen melancholischen Sinn für das Ephemere und einen Naturalismus der Nostalgie.“
Dieser besondere Umgang mit dem Licht und das subtile Spiel mit Schwarz und Weiß verbindet Hammershøi auch mit den großen fotografischen Lichtkünstlern seiner Zeit, mit Alfred Stieglitz und Heinrich Kühn etwa. Er entmaterialisiert die Welt durch die Körnigkeit seiner Malerei, und sie erinnert in ihrer reduzierten Farbigkeit und Standbildhaftigkeit immer wieder an die frühe Fotografie. Hammershøi hat wohl immer wieder Fotografien als Grundlage für seine Bilder genommen, er wusste um deren besondere Qualitäten in der Reduktion der Tonigkeit und kompositorischen Klärung. Dies führt direkt zu dem Verschmelzen der Dinge in den gemalten Fotografien Richters in den 1960er-Jahren: Das Ungreifbare, das dort zum Thema wird, die Lust an der Unschärfe und vor allem der stille Zweifel am Medium Fotografie deckt sich mit Hammershøis stillem Zweifel am Medium Malerei.
Die so lockende wie schmerzhafte Stille, die über jeder einzelnen Leinwand Hammershøis liegt, speist sich aus einer leisen Trauer. Es sind alles Bilder des Abschieds. Hammershøi scheint sich bereits aus dem 20. Jahrhundert zurückzuziehen, obwohl es eigentlich noch gar nicht begonnen hat. Auch an Ida scheint er sich nur noch wie an einen Traum zu erinnern, der langsam, je mehr man die Augen öffnet, immer ungreifbarer wird. Die Zimmer seiner Wohnung in Kopenhagen, das Mobiliar, jedes Bild wirkt wie ein letzter Blick zurück. Die ausgeblutete Grisaille seiner Palette verstärkt diesen Effekt.
Ein letzter Blick zurück. Nur auf was? Die Räume sind schon fast leer geräumt und nahezu unbelebt. Auch die wenigen Landschaften und Gehöfte wirken verlassen, da fliegt kein Vogel mehr und es weht kein Wind und in den kahlen Straßen und ausgezehrten Häusern, die er von außen malt, scheint kein Mensch überlebt zu haben. Alle sind von uns gegangen.
Es scheint, als wolle Hammershøi in jenem Moment der Weltgeschichte, als die Beschleunigung ihre ungeheure Dynamik entfaltet, bereits eine Welt malen, aus der die Zentrifugalkräfte die Menschen hinausgeschleudert haben. Nur Ida scheint noch geblieben: ein letzter Mensch, den er malt bei ihrem letzten Kontrollgang durch die leer gefegten Räume, bevor auch sie gehen muss, auf leisen Sohlen, um die finale Stille nicht zu stören, die sich über alles gelegt hat.
Die „Innenansicht der Großen Halle in Lindegaarden“ (1909), vielleicht Hammershøis kühnstes Bild, berichtet von diesem Abschied. Es ist ein leerer Raum, nur die Ornamente an der Decke und an den Wänden erinnern noch daran, dass hier einmal das Leben tobte. Der Ballsaal erzählt bereits von einer Welt nach den Menschen, nach der letzten Generation, also vom Ende des Anthropozäns.
Hammershøis Bilder wirken, als sei die Welt an ihr Ziel gekommen. Als könne sie endlich wieder ganz bei sich sein. So bannt Vilhelm Hammershøi in jedem seiner Gemälde den kostbaren Moment auf die Leinwand, in dem Zeit und Ewigkeit sich berühren.
„Vilhelm Hammershøi – Silence“,
Hauser & Wirth, Luftgässlein 4, Basel,
bis 13. Juli
Dieser Text erscheint als gekürzter Vorabdruck eines Essays aus dem begleitenden Katalog zur Ausstellung.