Fast hundert Jahre ist es her, dass die Neue Sachlichkeit erfunden wurde. Doch ihre Kunst und Denkweise ist uns heute noch nah, wie Jubiläumsausstellungen in Mannheim und Stuttgart zeigen
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18.11.2024
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Erschienen in
Weltkunst Nr. 234
Denn auch das zeichnet die Neue Sachlichkeit aus: Die Menschen auf diesen Gemälden machen es einem leicht, sich mit ihnen zu identifizieren. Ihre Präsenz zu spüren. Sich ihnen nahe zu fühlen, in ihnen Verwandtschaften, Mütter und Väter, Schwestern und Brüder zu erkennen. Dies gilt genauso für die Fotografien der Zeit – auch hier gab es nach den Ersten Weltkrieg einen Quantensprung, eine Annäherung an unsere Gegenwart, wie sie zuvor, wenn überhaupt, nur ansatzweise und flüchtig existiert hatte.
Der Kurator Jens-Henning Ullner von der Staatsgalerie in Stuttgart hat die Ausstellung mit Fotoarbeiten des Neuen Sehens, der Neuen Sachlichkeit und des Bauhaus aus der Sammlung Siegert kuratiert. „In der Nachkriegszeit verbreitete sich die Fotografie so rasch wie nie zuvor. Auf einmal gab es Handkameras zu kaufen, die man problemlos überall mit hinnehmen konnte. Auch viele Künstlerinnen und Künstler benutzten nun die Fotografie in ihren Arbeiten“, sagt Ullner. „Gleichzeitig haben die Menschen nach dem Krieg nach neuen Perspektiven gesucht, nach neuen Formen des individuellen Ausdrucks, nach individuellen Sichtweisen. Das Neue Sehen und die Neue Sachlichkeit haben der Fotografie zu einer eigenen neuen Sprache verholfen.“ Das zeigt sich sehr konkret: Ein Mann wie Friedrich Seidenstücker fotografiert sich und seine Begleiterin 1932 im Liegen. Was man sieht, ist die Wiese, sind die Felder in der Ferne – und die Beine der beiden („Picknick, Berlin“). Etwa zur selben Zeit hält sich Otto Umbehr, kurz Umbo, einfach die Kamera vors Gesicht: freier Oberkörper, Sonnenbrille, die Schatten seiner Arme und der Kamera. Jahrzehnte später wird man solche Fotos Selfies nennen.
Für Jens-Henning Ullner besteht kein Zweifel, dass die Fotografie der Zwanziger- und frühen Dreißigerjahre in ähnlich viele einzelne Strömungen zerfiel, wie die Malerei. Ein Selbstporträt wie das von Herbert Bayer ist im Grunde ein surrealistisches Werk, hochgradig künstlerisch und künstlich komponiert. Walter Peterhans’ reizende, unmittelbare, bemerkenswert nahbare Aufnahme einer „Bauhausschülerin“ dagegen entstand offensichtlich aus dem Moment heraus, im wahrsten Sinne des Wortes als Bild eines Augenblicks. Und Albert Renger-Patzschs streng symmetrisch von unten nach oben fotografierter „Industrie-Schornstein“ von 1925, er könnte auch eine Arbeit von Bernd und Hilla Becher aus den Sechzigerjahren sein.
Zu beobachten sind aber auch eine Menge Parallelen in den divergierenden künstlerischen Ansätzen. „Nach 1918 war die Sehnsucht groß, zu einer gewissen Nüchternheit in der Darstellung zu finden“, sagt Ullner. „Nehmen Sie als Beispiel August Sander, er schaut in seiner Serie ‚Menschen des 20. Jahrhunderts‘ auf alle und jeden mit dem gleichen analysierenden Blick, seien es ‚Landstreicher‘ oder ‚Der Aristokrat‘.“ Sander entwickelte die Idee zu seiner Porträtserie 1925, in demselben Jahr, in dem Gustav Friedrich Hartlaub in Mannheim seine Ausstellung auf den Weg brachte. Ursprünglich plante der Fotograf 45 Mappen à zwölf Porträts, daraus wurde schließlich ein Bildband mit 619 Fotos: ein eminent bedeutendes Zeitdokument und ein bis dahin (und auch danach) einmaliges gesellschaftliches Panorama.
Die Neue Sachlichkeit hat also unsere Vorstellung von den Zwanzigerjahren maßgeblich beeinflusst – auch weil die Gemälde und Fotografien so gut gealtert sind. Sie sind frisch geblieben, sie sagen uns noch immer etwas. Sie befriedigen unsere Neugierde, Schaulust und Seh-Sucht ebenso wie den Wunsch, Kunst als Spiegel des eigenen Ich zu verstehen.
Der Schwierigkeit, die verschiedenen Phänomene der Neuen Sachlichkeit unter einen Hut zu bekommen, begegnen die Kuratorinnen und Kuratoren in Stuttgart und in Mannheim, indem sie ihre Ausstellungen thematisch gliedern. An der Staatsgalerie zeigt Jens-Henning Ullner die 150 Werke der etwa 60 Fotografinnen und Fotografen der Sammlung Siegert in Blöcken, geordnet nach „Porträt“, „Landschaft“ und „Stillleben“. Für die Schau in Mannheim hat Inge Herold eine kleinteiligere Gliederung gewählt. Die großen drei, George Grosz, Max Beckmann und Otto Dix sind in einem Saal versammelt. Auf die Gegenüberstellung von Dix’ „Streichholzhändler II“ von 1927 und seinem „Bildnis der Tänzerin Anita Berber“ (1925) mit den Werken von George Grosz sowie Max Beckmanns „Fastnacht“ (1925) oder dessen Porträt seiner ersten Ehefrau Minna Beckmann-Tube von 1924 darf man gespannt sein.
Im folgenden Rundgang erwartet die Besucherinnen und Besucher das Thema „Zeitgeschichte“. Dort treffen unter anderen die beklemmenden Darstellungen von Aufruhr, Ausbeutung und Spießertum eines Georg Scholz auf Heinrich Maria Davringhausens verstörendes Bild eines Lustmörders mit dem noch verstörenderen Titel „Der Träumer II“ – ergänzt und in der Wucht ihrer Wirkung potenziert durch die Bilder von Trinkern und Bettlern der zu Unrecht eher in die zweite Reihe versetzten Künstler Ernest Neuschul, Otto Ritschl und Erich Drechsler. Weiter geht es mit dem „Menschenbild“ und dem „Bild der Frau“, die absichtlich zwei voneinander getrennte Kapitel bilden: Denn die modernen Frauen, die Karl Hubbuch („Lissy im Café“), der bereits erwähnte Albert Birkle, Heinrich Zernack, Gerta Overbeck und Lotte B. Prechner („Jazztänzerin“) malten, waren bis dahin in der Kunst praktisch unbekannt. Heute dagegen scheinen uns die „Laborantin“ von Richard Birnstengel und Meredith Framptons „Marguerite Kelsey“ aus der Tate Modern in London doch wohlvertraut.
Als nächstes Kapitel schließen sich die „Körperideale“ mit Picassos „Die Leserin“ von 1920 und dem „Akrobaten“ von Davringhausen an. Beckmanns fantastische „Rugbyspieler“ sind dort ebenso ausgestellt wie Rudolf Bellings Bronzefigur des Boxers Max Schmeling, eine der wenigen plastischen Arbeiten der Mannheimer Schau. Es folgen intensive „Selbstbildnisse“, etwa das von Lotte Laserstein vor der zerklüfteten Berliner Stadtlandschaft oder das „Selbstbildnis in der Malkutte“ von Fridel Dethleffs-Edelmann, auf dem uns einmal mehr auf verblüffende Weise eine Frau von 2024 gegenübertritt. Das Gleiche gilt für das Porträt, das die niederländische Malerin Charley Toorop 1930/31 von sich anfertigte.
Die Themen „Stillleben“, „Landschaft“ und „Stadt, Industrie, Mobilität“ runden den Parforceritt durch ein auf- und anregendes Jahrzehnt der europäischen Kunstgeschichte ab. Als kluger Schachzug entpuppt sich die Entscheidung, in diese Themenblöcke, wo es sich anbot, Werke aus den späten Dreißigerjahren zu integrieren. Zum Beispiel Otto Dix’ gekonnt ausgeführtes, aber als Bild in seiner Gefälligkeit vollkommen zahnloses Porträt der „Emmi Hepp“ von 1939, sein kitschiger „Christophorus (im großen Teich)“ von 1941 oder – bei den „Körperidealen“ – Gerhard Keils uniforme und schablonenhaft seelenlose „Turner“, ebenfalls aus dem Jahr 1939. So wird die Fallhöhe augenfällig, welche die Maler, die sich nach 1933 mit Repression und Restriktion zu arrangieren versuchten, künstlerisch ins Bodenlose abstürzen ließ. Hier ist kein Biss mehr, nichts Neues, Unerwartetes, keine Präsenz, die einen faszinieren könnte. Nur Abklatsch, Niedergang und Selbstbeschädigung.
1925 lief die Ausstellung, die Hartlaub organisierte, mehr als drei Monate lang. Damals sahen sie bemerkenswert wenige Menschen, obwohl sie in den Zeitungen rauf und runter besprochen wurde. 4100 waren es, um genau zu sein. Die Prognose sei erlaubt: Dieses Mal werden es mehr.
„Die Neue Sachlichkeit. Ein Jahrhundertsjubiläum“
in der Kunsthalle Mannheim,
22. November bis 9. März 2025
„Neues Sehen, Neue Sachlichkeit und Bauhaus. Fotografische Neuerwerbungen aus der Sammlung Siegert“
in der Staatsgalerie Stuttgart
bis 23. Februar 2025