In multimedialen Werken vermischt Laure Prouvost lustvoll Fiktion und Wirklichkeit. Jetzt überschreitet sie die nächste Grenze und überlässt ihren neuesten Film einem Quantencomputer. Das Resultat des Experiments ist in Berlin zu sehen
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20.03.2025
Im internationalen Jahr der Quantenwissenschaft haben wir Menschen plötzlich Superkräfte entwickelt. Unsere Wahrnehmung wird hypersensibel und grenzenlos: Wir können in einer Kunstausstellung von Laure Prouvost in der Halle eines ehemaligen Heizkraftwerks in Berlin-Mitte entspannt auf dem Boden liegen und an die Decke schauen – wo wir Bilder sehen, die dasselbe Gebäude aus der göttlichen Perspektive einer Drohne zeigen. Wenige Augenblicke später schauen wir ins Innere der Mauern, aus denen das Industriedenkmal besteht, oder wir springen in der Zeit und werden zu Augenzeugen jener Technopartys, die in anderen Momenten in dieser Halle stattfinden. Eine kleine Supernova an visuellen Eindrücken brennt Laure Prouvost hier in ihrem neuen Werk „We Felt a Star Dying“ für uns ab. Wir hingegen brauchen nichts weiter zu tun, als nach oben in einen Stoffbaldachin zu schauen, der unter der Betondecke hängt und als Projektionsfläche für das Video der französischen Künstlerin dient. „Bei diesem Film versuche ich den Gedanken der Quantenhaftigkeit in die Kunst zu übersetzen“, erläutert sie. „Es gibt diesen Moment der Verbindung mit dem Kraftwerk. Erst schweben wir über ihm, aber dann gehen wir mit mikroskopischen Aufnahmen hinein, tief in den Beton, spüren seine Flüssigkeit. Wir werden zu einem Sandkorn.“
Als unser Zoom-Gespräch mit Laure Prouvost stattfindet, liegt ihre Ausstellung im Kraftwerk Berlin tatsächlich noch einen knappen Monat in der Zukunft. Es ist der letzte Tag des Schnitts ihres Films. Drei Wochen lang habe sie 14 Stunden am Tag nur auf einen Computerbildschirm geschaut, berichtet sie. Die 46-jährige Künstlerin sitzt in ihrem Büro in Brüssel vor einem großen Fenster, durch das man in einen Hinterhof mit Backsteinmauern blicken kann. Sie trägt einen selbst gestalteten Schal um den Hals, ihre Haare sind lässig verwuschelt, und beim Sprechen kneift sie die Augen gelegentlich leicht zusammen. „Durch das viele Arbeiten fühle ich mich gerade sehr von der Realität entfernt“, sagt sie. „Und ich bin noch nicht fertig. Es gibt eine Sequenz, an der ich immer noch arbeiten will.“ Der Zeitdruck ist enorm – auch weil das geschnittene Video möglichst bald direkt um die halbe Welt geschickt werden muss, zum Labor von Google Quantum AI, Kalifornien. Dort gibt es einen ultramodernen Quantencomputer, der auf ihren Input wartet.
Als 2025 zum internationalen Jahr der Quantenwissenschaft von den Vereinten Nationen ausgerufen wurde, war die LAS Art Foundation in Berlin schon länger mit Laure Prouvost wegen einer Soloschau im Gespräch. Bettina Kames, CEO der Stiftung im Themenfeld zwischen Kunst und Wissenschaft, hatte Kontakt zum Google Quantum AI Lab. Also brachte die LAS Art Foundation die Künstlerin nach Kalifornien, damit sie dort mit Wissenschaftlern sprechen und mit deren Quantencomputer erste künstlerische Experimente wagen konnte. „Diese Maschine steht auf dem Campus in Santa Barbara – in diesem schicken, sonnigen Fleckchen der Welt“, erzählt Prouvost. „Und sie sieht wirklich wie eine riesige Qualle mit Tentakeln aus. Sie ist voller Drähte. Also wirkt sie immer noch wie eine Maschine, aber ihre Ästhetik ist eben auch sehr organisch.“
An dieser Stelle sei ein vorsichtiger und laienhafter Erklärungsversuch unternommen, inwiefern sich Quantencomputer von unseren gewohnten, binär aufgebauten Computern unterscheiden. Und was das eigentlich ist – Quantum. Eine wichtige Grundannahme der Quantenmechanik ist, dass ein Partikel nicht einen eindeutigen Zustand hat, sondern mehrere Zustände simultan. Es kann also gleichzeitig hier wie dort sein. Oben und unten. Null und eins. Sichere Voraussagen werden so zu unscharfen Wahrscheinlichkeiten: Eine Katze in einem verschlossenen Raum kann gleichzeitig lebendig und tot sein, solange niemand nachschaut, behauptete 1935 der Physiker Erwin Schrödinger in einem bekannten Gedankenexperiment. Und das Nachschauen bringt in der Quantenmechanik noch ein ganz anderes Problem mit sich: Denn nicht nur die Quantenpartikel selbst, sondern auch die Qubits genannten Recheneinheiten eines Quantencomputers sind höchst empfindlich, sodass sie auf geringste Störungen mit Abweichungen reagieren. Auslöser können vorbeifliegende kosmische Strahlungen, minimalste Temperaturschwankungen und leider auch der Messvorgang selbst sein. Weshalb Quantencomputer wie Googles Willow Chip zwar überirdisch schnell sind, weil sie, einer Hypothese nach, die Simultanzustände von Partikeln für zahlreiche gleichzeitig beschrittene Rechenwege nutzen –, aber dabei leider auch höllisch viele Messfehler und Zufallsergebnisse produzieren. Diese nennt man Quantenrauschen.
In „We Felt a Star Dying“ macht sich Prouvost genau dieses Quantenrauschen des Google-Computers zunutze, indem sie ihren Film durch sein Inneres jagt und dem Zufall überlässt. Die Vorstellung, dass die Strahlungszuckungen eines verlöschenden Himmelskörpers also tatsächlich Auswirkungen auf ihre Kunst haben könnten, erscheint bei unserem gemeinsamen Gespräch gar nicht abwegig. Von der Quantenwissenschaft hatte sie schon vor ihrem aktuellen Projekt eine vage Idee. Nicht weil sie viele Aufsätze dazu gelesen hätte, sagt sie, sondern weil sie um die Jahrtausendwende als junge Kunststudentin in London die Assistentin des englischen Konzeptkünstlers John Latham war, der sich obsessiv mit dieser Thematik beschäftigt habe. „Kunst ist Quantum“ sei ein beliebter Satz von ihm gewesen.